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Von Freiheit und verlorenen Kindern
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Das fahrende Volk der Jenischen lud von Freitag bis Sonntag zur vierten Fekker-Chilbi in Brienz  - und erinnerte an die Hunderten gestohlenen Kinder der Landstrasse.

Das Bild erscheint unwirklich. Hier die stolzen Chalets an der Brienzer Uferpromenade. Dort der See, der in die herbstliche Bergkulisse mündet. Und dazwischen der Wohnwagen von Martha Minster und ihrem Mann, welcher mit Ach und Krach zwei Zuckerwatten spinnt. Es ist Fekker-Chilbi in Brienz, der Märit der Jenischen, heuer bereits zum vierten Mal. Es ist die Chilbi, die zusammenbringt, was sich nicht kennt. Die Begegnungen ermöglicht zwischen den fahrenden und den sesshaften Schweizern. Denn dass sie Schweizer sind, betonen die Jenischen gerne. Dass sie genauso patriotisch sind. Wenn nicht gar eine Spur patriotischer, archaischer, urschweizerischer.

Die Marktstände der Fekker-Chilbi sehen aus wie aus dem Bilderbuch. Hier findet man nicht die immer gleichen Stände mit Magenbrot und Schuhwichse wie an den Dorfmärkten. Auch keinen Ramsch wie an den Trödlermärkten. An der Fekker-Chilbi verkaufen herausgeputzte jenische Frauen ausgesuchte Raritäten. Wertvolle antike Holzmöbel und alte Scherenschnitte. Retro-Spielautomaten und hochhackige Stöckelschuhe.

Es sind die Trouvaillen der Hausierer. Sie erzählen von der Freiheit der Fahrenden. «Wir sind frei wie die Vögel», schwärmt Alfred Werro. Er fährt wie die anderen 3000 bis 5000 Schweizer Jenischen, die noch nach ihrer traditionellen Kultur leben, von Frühjahr bis Herbst quer durch die Schweiz. Höchstens vier Wochen dürfen sie an einem Standplatz bleiben, dann ziehen sie weiter. An jedem neuen Ort gehen sie von Haustür zu Haustür, fragen nach Antiquitäten, Altmetall und nach Messern zum Schleifen.

Ein Hirsch steht ausgestopft und doch mit seiner gesamten Würde da und wartet, während am Stand gegenüber Hirschwürste verkauft werden. Von weitem erklingt Schwyzerörgeli-Musik. Ländler ist die Musik der Schweizer Jenischen, das Beweisstück ihrer helvetischen Tradition. Am Himmel dröhnen Kampjets und erinnern an das Böse.

Auch die Fekker-Chilbi erinnert in Filmen, mit Kunst und Diskussionen an ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte: 586 jenische Kinder wurden zwischen 1923 und 1972 vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute von ihren Eltern getrennt und in Heime, Psychiatrien oder Gefängnisse gesteckt. Sie sollten zu «brauchbaren Gliedern der Gesellschaft» erzogen werden. Die «Vaganität» musste ausgerottet werden. Wer seine Kinder noch hatte, war jahrzehntelang auf der Flucht. «Wir konnten nicht zur Schule, die Angst war immer da», erzählt Werro, an seinen Marktstand gelehnt.

Nicht nur er – fast alle Jenischen an der Fekker-Chilbi sind direkt oder indirekt betroff en. Die Angst vor den «Sesshaften» wird an die nächsten Generationen weitergegeben. Die Fekker-Chilbi sei deshalb auch da, um die Fahrenden den «Sesshaften» wieder anzunähern und nicht nur umgekehrt, sagt Organisatorin Sandra Bosshart von der Radgenossenschaft der Landstrasse. Gestoppt wurde das «Hilfswerk» erst vor 40 Jahren (siehe Interview). Doch da war es für die meisten Betroffenen schon zu spät. Zurück blieben irre Mütter und verwundete Seelen.Noch heute tauchten immer wieder ehemalige «Kinder der Landstrasse» auf, die auf der Suche nach ihren Wurzeln seien, sagt Werro.

In Martha Minsters Topf kochen Schweinswürste, und auf den Festbänken sitzen alte Bekannte. Auch sie war ihren Eltern gestohlen worden. Die 71-Jährige schluckt leer. Ihre Geschichte ist lang und traurig. Ihre Kindheit ein Drama. Die Familienzusammenführung ein Desaster. Immerhin hatte sie ihre Mutter noch kennen gelernt. «Ich konnte ihr die Frage stellen, die mich während meiner Kindheit auffrass: weshalb sie mich nie besucht hatte.»

Nebenan dreht das fast schon historische Karussell seine Runden. Drei Kinder kreischen vor Freude.

Zur Sache:

«Unter dem Teppich»

Herr Caprez, können Sie sich noch daran erinnern, als eine jenische Mutter 1971 bei Ihnen im Büro stand und ihre Geschichte erzählte?

Ja. Ich konnte nicht glauben, dass das wahr war: Die Pro Juventute habe ihr alle fünf Kinder weggenommen, weil sie eine Jenische sei und im Wohnwagen leben wolle. 1952 wurde sie schwanger verhaftet. Das Kind wurde ihr nach der Geburt umgehend weggenommen. 

Die Pro Juventute war damals eine angesehene Schweizer Institution. Die Frau hingegen war bereits vor Bundesgericht abgeblitzt. Weshalb glaubten Sie ihr?

Weil ich überzeugt war, dass sie nicht lügt. Sie erzählte alles so eindrücklich – solche Details kann man nicht erfi nden. Ausserdem fand ich bald glaubwürdige Zeugen.

Wie waren die Reaktionen auf den ersten Artikel im «Beobachter»?

Es gab extrem viele Reaktionen, und fast alle waren gegen mich. Auch die Presse

sprang nicht auf. 

Wann kam die Wende?

Erst in den 80er-Jahren. Der neue Generalsekretär der Pro Juventute zeigte mir den Aktenberg über die Kinder der Landstrasse: Jeder abgefangene Brief, jedes Detail über die knapp 600 Kinder war magaziniert. Da kam alles aus, und es ging eine Welle der Entrüstung durch die Schweiz.

Wie kam es, dass dieses Unrecht nicht vorher an die Öff entlichkeit gelangt war?

Die Pro Juventute war eine heilige Kuh, und das «Hilfswerk» wurde von Bund, Kantonen und Gemeinden getragen. Man schaute das Vagantentum als Krankheit an, die sich auf Kinder überträgt. Die Propaganda zeigte stark verwahrloste Kinder – die Bevölkerung meinte, das Projekt sei eine gute Sache. Die echten Fotos zeigten dann ein ganz anderes Bild der Jenischen.

Was passierte danach mit den auseinandergerissenen Familien?

Man führte einzelne Familien zusammen. Es war eine Katastrophe, eine riesige Enttäuschung. Den Kindern war bisher erzählt worden, ihre Mütter hätten sie verlassen. Dieses falsche Bild der Eltern liess sich nicht einfach so ändern.

Haben die Jenischen seither wieder an Selbstvertrauen gewonnen?

Ja. Die Alten sind zwar immer noch zusammengestaucht, aber die Jungen haben mehr Selbstbewusstsein. Insgesamt geht es dieser Minderheit jedoch nicht so gut. Es fehlt an Standplätzen – und damit an Lebensraum –, und die Industrialisierung hat ihre Tätigkeiten weggeputzt. Wer lässt heute noch Messer schleifen?

Heuer feiert die Pro Juventute das 100-jährige Bestehen. Das dunkle Kapitel wurde an der 1.-August-Feier auf dem Rütli am Rande thematisiert. Reicht das?

Nein, das Thema wird nach wie vor unter den Teppich gekehrt. Die Pro Juventute könnte sich beispielsweise einsetzen, die Kinder der Landstrasse in die Schulbücher zu bringen.  Denn dort gehört ihre Geschichte hin. (mry)

Dieser Text erschien am 8. Oktober im «Bund.» (pdf)

«Damals zählte das Talent, nicht der Trainingsaufwand»
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Liselotte Kennel trainierte im Rheinbad Schaffhausen in einem 70-Meter-Becken flussabwärts. Und trotzdem schaffte sie es nach London an die Olympischen Spiele 1948. Olympia hat nicht nur ihre Liebe zu Amerika geweckt und damit ihr Leben verändert, sondern auch ihre Motivation, sich für den Sport – und insbesondere für die Rechte der Frauen im Sport – einzusetzen.

Hellblau schimmert das Wasser im Schwimmbad in Liselotte Kennels Garten am Sonnenhang Balsthals. Der Rasen ist frisch gemäht, die Rosen blühen. Unter einer Pergola warten weisse Plastikstühle auf den Sommer. Doch das kühle Nass stiehlt Blumen und Dekoration die Aufmerksamkeit. Das Wasser ist das Zentrum von Kennels Garten. Und der rote Faden in ihrem Leben. Liselotte Kennel – sie wird seit jeher «Lilo» genannt – setzt sich für das Fotoshooting auf den Rand des Beckens. Hier schwimmt sie an warmen Tagen ihre Runden und hält sich fit. Auch mit 82 Jahren noch.

Kennel blinzelt, es ist der erste sonnige Tag seit langem. In ihrem Gesicht verraten nur die Falten ihr wahres Alter. Ihr Blick hingegen zeigt eine Frau mit der Energie eines jungen Menschen. Einer Frau, die noch ganz viel vorhat im Leben. Die das Leben nicht hinnimmt, sondern dieses mitgestaltet. Die mit Fröhlichkeit und Nachdruck für ihre Anliegen kämpft. Sie lacht in die Kamera und erzählt von früher. Von ihrer Karriere als Schwimmerin. Von den Olympischen Spielen in London 1948 und Helsinki 1952. Von ihrer Laufbahn als eine der ersten Sportlehrerinnen ETH und als einzige Frau im Zentralvorstand des Schweizerischen Landesverbandes für Sport (SLS, heute Swiss Olympic). Es ist die Geschichte einer Frau, die mit Talent zum Sport kam und sich später mit Leidenschaft für den Sport einsetzte – und für die Rechte der Frauen im Sport.

Wer Talent hatte, kam weit

Naiv und stürmisch war der Sport damals in den 50er Jahren. Sportler genossen kein grosses Ansehen – Sportlerinnen schon gar nicht. Dafür war der Spassfaktor umso grösser. Von Leistungstests und Zeitlimiten redete noch niemand. «Nicht einmal Krafttraining kannte man», sagt Kennel, «es war eine schöne Zeit. Nicht verbissen, alles war spielerisch.»  Die Wettkämpfe von damals waren ein fröhliches Kräftemessen, es gewann nicht jener, der am meisten trainiert hatte, sondern wer am talentiertesten war. Solche Wettkämpfe findet man heute höchstens noch bei den Kindern. Oder in Randsportarten.

Liselotte Kobi, wie sie damals hiess, hatte Talent. Vor allem im Brustschwimmen. Als junges Mädchen war sie quirlig und bewegte sich viel. Eines Tages nahm sie an einem Schwimmwettkampf teil. Und gewann. Von da an schwamm sie im Schwimmklub Schaffhausen, Trainer war ihr Turnlehrer. Schwimmbad hatte es zwar kein richtiges, aber es gab das Rheinbad, in dem bei jeder Temperatur trainiert wurde. Wegen der Strömung mussten die Schwimmer am Ende des 70-Meter-Beckens aussteigen und zu Fuss zurückgehen. Länge für Länge. Eine Trainingseinheit über 600 Meter war «das höchste aller Gefühle». Die Wende musste sie in einem anderen Schwimmbad üben.

«Das waren Pfahlbauerzeiten»

Einmal pro Woche durfte die junge Schwimmerin in Thayngen mit den Männern trainieren. Das war eine Ehre für sie, denn in den Schwimmbädern waren Männer und Frauen sonst strikte getrennt. Kennel fuhr die 20 Kilometer mit dem Velo hin und wieder zurück. Und damit sie auch im Winter trainierten konnte, wünschte sie sich zu Weihnachten jeweils ein 10er-Abo für den Zug nach Zürich, denn dort gab es ein Hallenbad.

Bald gewann «Lilo» Regionalmeisterschaften. 1946 machte sie als 16-Jährige erste Schweizerrekorde, die jeweils am Radio verkündet wurden. Den Rekord in 200 m Brust unterbot sie gleich um 30 Sekunden. «Verglichen mit heute waren das Pfahlbauerzeiten!», sagt Kennel und lacht. Dafür habe man sich nicht geschunden wie heute, «das ist ja grauenhaft, wie die Schwimmer heute trainieren!» Niemals hätte sie das mitgemacht, sagt sie mit Nachdruck. 

Gute Betreuung dank «Megge» Lehmann

1947 ging es nach Monaco an die EM. Begleitet wurde das Schwimmteam von Max «Megge» Lehmann, dem späteren Radio- und Fernsehpionier, der von da an die treibende Kraft Elite-Schwimmerinnen war: «Er konnte uns begeistern», sagt Kennel. 

Lehmann war es denn auch, der aus den Olympischen Spielen ein unvergessliches Erlebnis machte für die drei Schweizer Olympia-Schwimmerinnen Liselotte Kobi, Doris Gontersweiler (heute Santschi), mit der Kennel bis heute gut befreundet ist, und der Tessinerin Marianne Ehrismann. Denn: «Die Vorbereitungsphase war lausig», sagt Kennel. 

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» ​

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» 

Noch heute strahlt Kennel, wenn sie von «Megge» erzählt. Die Schwarz-Weiss-Fotos im vergilbten London-1948-Album zeigen einen gutaussehenden Mann. Lehmann war der «Beschützer» der jungen Mädchen, er machte alles für sie und nannte sie «meine Töchter». Und sie himmelten ihn im Gegenzug an. Die meisten anderen Schweizer Athleten in London 1948 hatten da nicht so viel Glück und mussten ihre Wettkämpfe ohne jede taugliche Betreuung bestreiten, da die zuständigen Personen eher als VIP-Gäste denn als Betreuer in London waren.

Zusammenzug in der Männerbastion Magglingen

Für die Olympischen Schwimmwettkämpfe 1948 wurden alle Schweizer Landesrekordhalter selektioniert. In Romanshorn mussten sie bestätigen, dass sie «fähig» waren für Olympia. Sie erhielten eine Uniform, an die ihre Eltern bezahlen mussten, und in Magglingen, wo Sportler bereits damals im «Vorunterricht» als angehende Soldaten gefördert wurden, gab es einen einmaligen Zusammenzug des Olympia-Schwimmteams. 

«Das war ein Highlight», sagt Kennel: «Magglingen war sehr hoch im Kurs bei den Sportlern. Es war eine Männerbastion, fest in militärischen Händen. Wir fühlten uns wahnsinnig geehrt, dass wir dort bei 16 Grad Wassertemperatur trainieren durften.» Auch in Magglingen gab es damals noch kein Hallenbad. 

Nach langem hin und her gab auch das Lehrerseminar, das Kennel besuchte, grünes Licht. «,Megge‘ musste unterschreiben, dass er auf uns aufpasst», sagt Kennel und lacht. Sie war es gewohnt, von ihren Lehrern eher Spott als Anerkennung zur erhalten für ihre sportlichen Leistungen. Eine Erfahrung, die sich in der jungen Frau einbrannte und sie prägte.

Eröffnungsfeier war «enorm beeindruckend»

Und dann kam der Tag, an dem sie mit den anderen Athleten der Schweizer Delegation per Schiff nach London reiste, immer «lieb überwacht» von Lehmann. Auf der Fahrt lernte sie den Leichtathleten Armin Scheurer kennen, Schweizer Fahnenträger in London und laut Kennel «damals eine Kapazität». Es blieb zu ihrem Bedauern fast die einzige Bekanntschaft mit anderen Olympia-Athleten – insgesamt nahmen in London über 4100 Sportler teil, darunter 390 Frauen. Einzig vor der «enorm beeindruckenden» Eröffnungsfeier – sie mussten stundenlang im Park warten, bis sie ins Wembley-Stadion einmarschieren durften –, hatten sie noch einmal Gelegenheit austauschen.

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Während den Spielen waren sie von den anderen völlig abgeschottet, ein olympisches Dorf gab es damals noch nicht: Alle Teams der Schweizer Delegation hatten andere Unterkünfte. Zuerst wohnten die drei Schwimmerinnen in einer Haushaltungsschule, weit weg von den Wettkampfstätten und von ihrem Betreuer Lehmann. Das Essen sei sehr schlecht gewesen, erinnert sich Kennel.  Die Lebensmittel seien – wie in der Schweiz – auch nach dem Krieg noch rationiert worden. «Zum Glück hatte ich noch eine Büchse Ravioli dabei.» Die Enttäuschung war gross. Lehmann sorgte dafür, dass die Mädchen umziehen konnten – in eine Unterkunft, wo Athletinnen aus Jamaika und Frankreich wohnten. 

Big Ben ist kein Mensch

«Einmal durften wir zu den Männern ins Camp Uxbridge, wo sie zusammen mit den Amerikanern wohnten», sagt Kennel, «dort hatten sie alles!» Bis heute sieht sie deren Buffet vor ihren Augen. Im Camp sangen die Schwimmerinnen mit den Amerikanern Lieder, begleitet von Megge Lehmann und seiner Gitarre.

Kennel sah sich auch viele Leichtathletik-Wettkämpfe an. Und an den Sonntagen standen Stadtrundfahrten auf dem Programm. Die drei Schwimmerinnen waren beeindruckt von der Grossstadt London, von der sie nichts wussten, «ausser dass der Big Ben kein Mensch ist». Sie hätten in den zwei Wochen so viele schöne Sachen gesehen in London, erzählt Kennel. «Wir standen einfach da und staunten.»

Die einzige Schweizerin im Halbfinal

Der Schwimmwettkampf fand gegen Ende der zwei Wochen in London statt. Einmal wurden die drei jungen Frauen – als einzige Passagiere – von einem doppelstöckigen roten Bus abgeholt und zum Empire Pool chauffiert. Lilo Kennel startete auf Bahn 4. 200 Meter Brust. Sie gab alles und landete – als einzige des Schweizer Schwimmteams – «glücklich im Halbfinal», wie sie mit der Unbeschwertheit von damals erzählt.

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. ​

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. 

Nervosität kannte Kennel nicht – auch nicht, als sie im Halbfinal auf dem «Böckli» stand. Sie sah Armin Scheurer am Bassinrand, er feuerte sie an, er schrie und ruderte mit den Armen. «Das kann man sich heute an Olympischen Spielen nicht mehr vorstellen!», lacht Kennel. Sie genoss es, sich mit anderen Nationen messen zu dürfen. In ihrem vergilbten Buch kleben die Ranglisten der Halbfinale. Kennel studiert die Zeiten. «Ich wurde jedenfalls nicht letzte», schmunzelt sie.

Amerikaner mit «Sexappeal»

Die Stars in London 1948 waren die Amerikaner. In Kennels Buch von damals sind sie in modischen Badeanzügen abgebildet. «Die hatten Sexappeal!», sagt Kennel und lacht. Die junge Frau bewunderte die muskulösen Athleten – und ihr gefiel die amerikanische Hymne: «Sie ist so lieblich sanft, um gleich darauf stark und prägnant zu ertönen.» Die Siegerehrungen in London wurden zu einem Schlüsselerlebnis in Kennels Leben: «Ich sagte mir damals in London: Ich will nach Amerika. Ich wollte wissen, ob auch die Menschen dort sind wie ihre Hymne.»

«Immer Amerika»: Die amerikanische Hymne ertönte in London 1948 häufig - und veränderte Kennels Leben.

Nach den Spielen absolvierte Kennel an der ETH als einzige Frau ein Sportstudium. Ihren späteren Ehemann, mit dem sie bis heute zusammenlebt und den sie seit 30 Jahren pflegt, lernte sie in der Studenten-Ski-Nationalmannschaft kennen. 1952 nahm sie an den Olympischen Spielen in Helsinki teil und beendete ihre Schwimmkarriere. Danach arbeitete sie als Primarlehrerin, um Geld zu verdienen für die Fahrt nach Amerika. 1955 machte sie ihren Traum war. Sogar die Zeitung berichtete über die junge Frau, die alleine nach Amerika reiste. In Rochester musste sie zuerst ein halbes Jahr in einem Haushalt helfen – das war vorgeschrieben. Danach ging sie in den Osten, wo sie einen Winter lang als Skilehrerin arbeitete. Im Sommer folgte Kalifornien, nun verdiente sie ihr Geld als Schwimminstruktorin. Sie war beeindruckt, welchen Stellenwert der Sport in Amerika genoss. 

Die Olympischen Spiele haben ihr Leben geprägt

«Die Olympischen Spiele haben mein Leben verändert», sagt Kennel heute. Die Spiele brachten sie nach Amerika und Amerika prägte die junge Frau fürs Leben. Sie setzte sich zeitlebens für den Sport und den Schwimmverband ein. Und für die Frauen: Sie übernahm die SLS-Kommission «Sport und Frau» und wurde darauf als einzige Frau in den Zentralvorstand des Landesverbandes für Sport einberufen. Sie kämpfte dafür, dass die Frauen selbstsicherer wurden. Dass auch sie Eishockey und Fussball spielen durften. Dass auch die Sportlerinnen gefördert wurden. Heute sei sie ruhiger geworden, sagt Kennel. Bei gesundheitlichen Schwierigkeiten zucke sie mit den Schultern und sage, sie sei halt «nicht mehr 80». 82 ist aber noch lange nicht 100. Und Lilo Kennel hat noch viel vor in ihrem Leben.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen sind die Beiträge über Turmspringer Ernst Strupler und die Herren des Rudervierers mit Steuermann.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

Der Traum vom schwarzen Bändel

Wechä Gäggeler ist seit Jahren Gigathlet. Nun ist er einer von denen, die er immer mit viel Bewunderung und etwas Abscheu als Spinner bezeichnet hatte: ein Single. Mit Hilfe seiner Supporter, die in den Wechselzonen bei Hitze und Gewitter stundenlang warteten, um in den entscheidenden Minuten bereit zu sein. 

Es ist der schwarze Bändel am Handgelenk, der alles ausmacht. Wen Werner «Wechä» Gäggeler im Gigathon-Camp in Olten auch trifft, man blickt sich nicht in die Augen, sondern auf den Bändel. Hier ein ungläubiger Blick, dort ein Hauch von Erstaunen – Wechä Gäggelers Bändel ist schwarz. Nicht orange wie jene der Team-of-five-Athleten. Auch nicht grau wie bei den Couples. Er hat den Schritt gewagt: Nach etlichen Gigathlon-Jahren im Fünfer- und Zweierteam startet er nun alleine: Je fünf Etappen an zwei Tagen, insgesamt 92 Kilometer Inline, 12 Kilometer Schwimmen, 96 Kilometer Bike, 198 Kilometer Rad und 52 Kilometer Laufen. Über 7500 Höhenmeter. Ohne Ablösung. Fast ohne Pause. 

Wechä Gäggeler ist kein Hardcore-Athlet. Er ist auch kein geborener Ausdauersportler. Aber er ist einer, der eine Vision hatte. Und nun nur noch ein paar Stunden davon entfernt ist, seinen Traum zu realisieren. «Früher habe ich immer gedacht: ,Was sind das nur für Spinner!‘ Ich wollte mir beweisen, dass ich auch spinnen kann», sagt Gäggeler. Doch er weiss: Es ist nicht sicher, dass er das Ziel vor dem Besenwagen erreichen wird.

Jedes Ding an den richtigen Ort

Es ist Freitagabend. Gäggeler sitzt mit seinen zwei Supportern im Camper. Während rundherum hunderte Gigathleten darauf warten einzuchecken, sind sie hochkonzentriert am Packen. Für jede Disziplin gibt es einen Sack. Trikots, Ersatzpneus, Kraftgel, Salztabletten – jedes Ding muss an den richtigen Ort. Socken eingepackt? Startnummern angeheftet? Alles muss exakt geplant sein.

Gäggelers Supporter werden zwei Tage lang ganz in seinem Dienst stehen. «Die beiden sind massgeblich daran beteiligt, dass ich immer mehr will», sagt Gäggeler: Sein langjähriger Freund Michael Aebischer (43), Vater von vier Kindern, der 1999 mit dem TransSuisse die gemeinsame Gigathlon-Serie begann. Damals war Gäggeler sein Supporter. Und Simone Ryser (42), seine  Couple-Partnerin. Sie wäre eigentlich fit genug, um selbst am Gigathlon zu starten. Aber sie zögerte keinen Moment, ihn zu unterstützen. Sie freue sich, einmal auf dieser Seite des Gigathlon zu stehen, sagt sie. 

Stimmung zwischen Openair und Volkslauf

Vier Disziplinen-Wechsel gibt es pro Tag. Viermal umziehen, Schuhe wechseln, Nahrung tanken. Jedes Mal an einem anderen Ort. Während die Supporter den Gigathleten in vergangenen Jahren von Ort zu Ort im Auto hinterherreisten, ist der Gigathlon 2012 autofrei. Das heisst für die Supporter: Sie tragen das ganze Material von Wechselzone zu Wechselzone.


Das Team sucht sich einen Weg durchs Gigathlon-Camp. Durch die hunderten roten Zelte, die Stände der Sponsoren. Durch das Gewimmel von Musik, Farben und Gerüchen. Die Stimmung schwankt zwischen Openair und Volkslauf. Im Oltener Eishockeystadion wird der Gigathlon eröffnet. Wechä Gäggeler kennt fast jeden. Er ist immer gut gelaunt, hat immer gute Sprüche parat. Jeder freut sich, ihn zu sehen. Und jeder richtet als erstes den Blick auf den Bändel. Erstaunt, erfreut, neidisch. Gäggeler wird nervös. Aber er kann beruhigt schlafen - seine Supporter haben alles im Griff.

Gigathleten zelebrieren Leidenschaft zum Sport

Samstagmorgen, 3.30 Uhr. Heute ist Gäggelers Geburtstag. Ein Müesli zum Frühstück. Die lange Inline-Strecke geht in die Beine. Simone Ryser wartet bei der Wechselzone in Altreu, wo sie Gäggeler in den Neopren steckt und ihn motiviert fürs Schwimmen, seine schwächste Disziplin. 9 Kilometer aareabwärts bei schwächster Strömung sind jedoch ein harter Brocken. So weit ist er noch nie am Stück geschwommen. Irgendwann kann er nicht mehr, hält bei einem Boot und fragt, wie weit es noch sei. Er ist erst in der Hälfte.

Michael Aebischer wartet derweil bereits in Solothurn. Mountainbike, Notvorräte, Sonnencreme und Handy liegen in der dicht gedrängten Wechselzone am Boden. Neben Campingstühlen, Rucksäcken und Helmen. Warten ist eine der Hauptaufgaben der 820 Supporter. Stundenlanges Warten, um dann in den entscheidenden Minuten parat zu sein. Aebischer ist jedoch nicht allein. Man kennt sich in der Single-Wechselzone. Man hilft sich aus. Hält zusammen in der mörderischen Hitze. 

Aebischer beobachtet die Singles, die nun zahlreicher in die Wechselzone kommen, um sich gleich wieder mit dem Bike den Weg durchs Gewimmel zu bahnen. Es wurmt ihn nur zuzusehen, wie die anderen Vollgas geben und ihre Leidenschaft zum Sport zelebrieren. Er, der sich seit langem am Biennathlon mit Gäggeler duelliert. Doch der Gigathlon 2012 war für Aebischer kein Thema - er hatte im November seine Achillessehne gerissen. Ein guter Grund, stattdessen seinen Freund zu betreuen.

Dank Supportern kurz abschalten

Und dann kommt er. Aebischer lotst Gäggeler zum seinem Platz im Chaos der Wechselzone. Gäggeler strahlt. Die Schwimmstrecke habe ewig gedauert, sagt er. Raus aus dem Neopren, abtrocknen, Velotrikot an, Schuhe, Trinken, Sonnencreme. Gäggeler setzt sich gelöst auf den Campingstuhl. Plaudert, isst ein paar Nüsse. Er ist zufrieden mit seiner Form. Müde, aber motiviert. Dank seinen Supportern kann der Gigathlet in der Wechselzone kurz abschalten. Und sie sind es, die ihn wieder auf die Piste schicken und es nicht zulassen, dass er in der Wechselzone liegen bleibt.

Aebischer nimmt Gäggelers Bike und die beiden verschwinden im Gewimmel. Vier Stunden wird der Gigathlet für die nächste Etappe haben. Vier Stunden auf und ab, ohne Unterbruch. Und das in der grössten Mittagshitze und zum Teil durch den Morast, bis nach Oensingen. Danach folgen über fünf Stunden auf dem Rennvelo, während die Schnellsten schon lange im Camp am Duschen sind.

Weshalb tut er sich das an? Vielleicht macht er es für sein Ego. Um sich zu beweisen, dass er mit seinen 43 Jahren noch zu so etwas fähig ist. Vielleicht wegen der Anerkennung. Vielleicht ist es die Angst vor dem Älterwerden. Wann, wenn nicht jetzt?, hatte er sich am letztjährigen Gigathlon gefragt. 

Im Ziel ist am Start

Es ist 18 Uhr in Sissach. Gäggeler ist noch auf dem Rennvelo unterwegs. Das Warten geht weiter, zu Swing und Sonne. Es ist nach sieben Uhr, als er eintrifft. Er nimmt es gemütlich, er hat keinen Stress mehr. Das einzige Ziel ist jetzt, noch die letzte Etappe zu schaffen, die 24 Kilometer Laufen. Er lacht noch immer, doch er ist erledigt. Zu hart war die Strecke. Die fiesen Steigungen, immer und immer wieder. Zu heiss die glühende Hitze. Er kann kaum etwas essen und trinken. Aebischer besteht aber darauf, drückt ihm ein Biberli und ein Becher Cola in die Hände. Gäggeler muss sich hinlegen. Er beginnt zu zweifeln, ob sein Traum noch realistisch ist. Aebischer befiehlt ihm, weiterzukämpfen. Aufgeben ist kein Thema. Heute nicht. Aber morgen?

Endlich läuft Gäggeler los. Aebischer würde ihn gerne begleiten. So wie früher, als die Supporter die Gigathleten noch mit dem Bike begleiten und auf der Strecke betreuen durften. Er würde ihn beschwatzen und mit ihm lachen. «Wir hätten es lustig», ist er überzeugt. Nun wird Gäggeler alleine durch den Wald rennen, im Dunkeln  – ohne die dringend nötige Stirnlampe, die im Camper blieb. Er wird daran zweifeln, ob er es noch bis ins Camp schafft. Die Beine wollen sich nicht an den Rhythmus des Laufens gewöhnen. Es ist 23.15 Uhr nachts, als Wechä Gäggeler nach über 17 Stunden im Ziel einläuft, Arm in Arm mit zwei anderen Läufern. Er strahlt, ist glücklich. Aber zuversichtlich ist er nicht. «Morgen könnt ihr ausschlafenl», sagt er seinen Supportern. Unvorstellbar erscheint es ihm, in ein paar Stunden schon wieder loszufahren, das Ganze von vorne. Geburtstagsparty wird es keine mehr geben.

Der Besenwagen im Rücken

Es ist Sonntag. Der blaue Punkt auf dem Tracker bewegt sich vorwärts, es sind Gäggelers Lebenszeichen. Simone Ryser und Michael Aebischer reisen wieder von Wechselzone zu Wechselzone. Sie wechseln sich wie immer ab, damit die Wege mit dem Zug kürzer werden. Von Olten nach Nottwil, über Sursee nach Rothrist, dann nach Oensingen und wieder zurück nach Olten. Dieses Mal nicht durch die Hitze, dafür durch Blitz und Donner. Ein Hagelsturm deckt die Inline-Strecke zu, Bäche fliessen über die Bike-Singletrails. Der blaue Punkt bleibt nie stehen, das ist ein gutes Zeichen. Der zweitletzte Wechsel klappt nicht gut, es regnet in Strömen, Aebischer ist nicht parat. Der Camelbag mit dem Wasser für die Laufstrecke bleibt liegen. Doch Wechä Gäggelers blauer Punkt im GPS kriecht weiter, den Besenwagen im Rücken seinem Ziel entgegen. Seinem Traum, nicht nur einen schwarzen Bändel zu tragen, sondern mit ihm das Ziel vor Wettkampfschluss zu erreichen. Um sich danach noch höhere zu stecken. Seine Supporter erwarten ihn im Dunkeln.

Text und Fotos: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 1. Juli 2012 im Olympiablog und auf www.gigathlon.ch.

Freundschaft statt Ergometer

An den Olympischen Spielen in London 1948 sassen fünf junge Schweizer Ruderer im gleichen Boot und hielten sich für unschlagbar. 64 Jahre später sitzen sich vier von ihnen als alte Herren wieder gegenüber. Und ihre «tiefe Kameradschaft», die ihnen damals Olympiasilber bescherte, ist schlagartig wieder da.

Die Wasserverhältnisse waren gut, ein leichter Gegenwind wehte über das Wasser der Themse bei Henley, im Sommer 1948. Die Boote der Vierer mit Steuermann im olympischen Ruderfinale wurden ins Wasser gesetzt. Am Start waren Amerika, Dänemark und die Schweiz. Die Schweizer gingen sofort in Führung. Vier kräftige Ruderer Mitte zwanzig und ein blonder Jüngling am Steuer. Er schrie den Takt in den Wind und feuerte die Ruderer an.

In der Hälfte führten die «Zürcher Seeklübler» mit einer halben Länge auf Amerika und mit einer ganzen auf Dänemark. «Doch dann legten die Yankees einen langen Zwischenspurt ein», schrieb ein Reporter. Es kam zum Kopf-an-Kopf-Rennen.

Der junge Steuermann nahm das amerikanische Boot im Blickfeld wahr, verzweifelt versuchte er, seine Kameraden zu noch kräftigeren Zügen anzufeuern. Doch das gegnerische Boot zog an ihnen vorbei. «Der Endkampf war hinreissend», stand danach in der Zeitung. «Nach grossem Ringen blieben die Überseer [sic] mit einer halben Länge siegreich.»

Der Schock sass tief bei den fünf Schweizer Ruderern. Dabei hatten sie sich für unschlagbar gehalten. Sie sassen noch ausser Atem im Boot, als ihnen bereits die Silbermedaille übergeben wurde. Sie war in diesem Moment eine einzige Enttäuschung.

Wiedersehen nach 64 Jahren

Das war vor 64 Jahren. Vieles haben Emil Knecht (88), Erich Schriever (87), André Moccand (81) und Rudolf Reichling (87) in dieser Zeit vergessen. Nicht aber diesen Moment, als die Amerikaner kurz vor dem Ziel an ihnen vorbeizogen.

«Ich kämpfte und versuchte noch mehr Dampf zu geben. Ich sah nichts mehr, doch ich ruderte weiter», erzählt Emil Knecht. Seine Augen leuchten. «Wir wollten nur eines: gewinnen», sagt Erich Schriever. Und Steuermann André Moccand habe sich im Ziel «richtig aufgeregt».

Sassen in London 1948 im selben Boot: André Moccand, Emil Knecht, Rudolf Reichling und Erich Schriever (v.l.).

Nun sitzen die ehemaligen Ruderer bei Rudolf Reichling im Esszimmer. Ein jeder von ihnen ist vom Alter gezeichnet. Doch die Erinnerungen sind noch lebendig. Sie sind zusammengekommen, um über die Olympischen Spiele in London 1948 zu erzählen. Um Erinnerungen zu wecken und Andenken auszutauschen. Fotos, die attraktive junge Männer zeigen, Zeitungsartikel, vergilbte Ranglisten, ja gar die olympischen Silbermedaillen und ein blauer Trainer aus Zellwolle liegen verstreut auf dem Tisch neben Speckkuchen und frischem Most. Die Geschichten von damals, die Anekdoten, die Emotionen liegen wie ein Schleier in der Luft. Genauso wie die Gedanken an den fünften im Team, Peter Stebler, der vor wenigen Jahren verstorben ist. 

London 1948 (fast) nur für Amateure

«Die Amerikaner hatten eine sehr starke Mannschaft», sagt Erich Schriever. Man habe sie bewundert, sagt Moccand, «das waren richtige Fetzen!» Die hätten sich aber auch ganz anders auf Olympia vorbereitet. «Die studierten alle und konnten den halben Tag Sport treiben!», sagt Reichling empört. Was damals mit den amerikanischen Studenten begann, ist dem ehemaligen Nationalratspräsidenten und Weinbauer bis heute ein Dorn im Auge: die Professionalisierung des Sports. 1948 galt noch die Klausel von Coubertin, welche Profis an Olympischen Spielen ausschloss. Die Olympioniken mussten unterschreiben, dass sie Amateure waren. «Es war der grösste Blödsinn, diese Klausel abzuschaffen», sagt Reichling, «das ist nicht Sport, wenn jemand den ganzen Tag trainiert und dafür bezahlt wird.» Schriever ist da anderer Meinung. 

Auch für Reichling war Olympia das «höchste Ziel jedes Sportlers». Doch die Arbeit kam zuerst. Als er kurz nach den Olympischen Spielen den Hof des Vaters in Stäfa übernahm, blieb denn auch keine Kraft mehr fürs Rudern übrig. «Gesundheitsrudern war nichts für mich. Ich mag keine halben Sachen.» 

«Extrem gut befreundet»

Die jungen Ruderer des Zürcher Seeklubs waren Athleten aus Leidenschaft. Und sie waren Freunde. «Es verband uns eine enge Kameradschaft», sagt Knecht, der später als Kaufmann arbeitete, «wir freuten uns jedes Mal, ins Boot zu steigen.» Eine eingefleischte Mannschaft, die durch dick und dünn ging. «Das war unser Erfolgsgeheimnis», sagt Schriever. Auch Knecht ist überzeugt, dass es diese Freundschaft war, die das Team so erfolgreich machte. Die sie bereits «als Juniorboot» die Schweizer Olympiamannschaft von 1936 schlagen liess und sie nach London brachte. «Heute werden die Rudermannschaften aufgrund des Ergometers zusammengestellt. Ich behaupte, dass so nie dieses Mannschaftsgefühl aufkommen kann, welches damals  zu unserem Erfolg geführt hatte.»

Dieser Trainer war das einzige Bekleidungsstück, das die Schweizer Olympioniken, hier Rudolf Reichling, nicht selber bezahlen mussten.

Und dann packen sie ihre besten Geschichten aus. Etwa jene von Knecht und Stebler, die am Vortag eines Wettkampfs wegen einer Frau ihr Boot im Wasser vergassen und es am nächsten Tag nirgends mehr fanden. Oder jene von Reichling, der in neuen Wettkampfunterkünften regelmässig auf die Betten der anderen hechtete und diese demolierte, um sie danach brav wieder zu flicken.

Vier Freunde ohne Steuermann

Die Freunde hatten sich schon früh gefunden. Politikersohn Reichling, der spätere Architekt Schriever und Peter Stebler gingen in dieselbe Mittelschule. Ihr Turnlehrer war Ruderer und spornte das Trio an. Emil Knecht kam später dazu: «Ich ging immer einen anderen Weg als alle anderen», sagt er mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht. 

Wegen Schwierigkeiten in der Schule kam Knecht in ein «Institut zum Nachstudieren». Eigentlich war er Velorennfahrer. Doch dann nahm ihn ein Bekannter mit zum Rudern. Im Seeklub befreundete er sich «ganz eng» mit Peter Stebler. So eng, dass sie später sogar zwei Schwestern heirateten. Es war diese Freundschaft, die Knecht vom Velorennfahrer zum Ruderer und «dem Rekruten im Team» machte.

Knecht hatte einen Trumpf: «Das ,Bibi‘, sein Auto», sagt Reichling. «Er wusste sogar, wie man den Kilometerzähler ausschaltet, damit sein Vater nicht sah, wie viel Benzin wir verbrauchten!»Knecht lacht laut los mit seiner leisen und glucksenden Stimme. Mit einem Schlag spürt man, was die Männer in jungen Jahren verbunden hatte. Man spürt ihre Lebenslust und den Teamgeist. Die jugendliche Sorgenlosigkeit und Unbeschwertheit. Und die tiefe Freundschaft, die sie damals verband. Vier Freunde, die ruderten statt sich in Krieg und Schrecken zu verlieren.

Genau 50 Kilo Steuermann

Das Boot des Zürcher Vierers war schnell. Bei der olympischen Hauptprobe, der berühmten Henley-Regatta, scheiterten die Ruderer jedoch. Zu eng war der Kanal ohne Steuermann. Der Ruderverband machte sich deshalb auf die Suche nach einem fünften Teammitglied. An den nächsten Schweizermeisterschaften wurde der 17-jährige André Moccand, der erst zwei Jahre zuvor mit Rudern begonnen hatte, vom Speaker aufgerufen. Ahnungslos wurde er gewägt. 50 Kilo, das war perfekt. Die Verbandsherren eröffneten ihm, er werde in Kürze an den Olympischen Spielen in London das Steuer übernehmen.

Sie nahmen Moccand mit zu den Trainings auf dem Stausee in Wettingen, auf dem die Limmat ein ähnliches Fliessverhalten aufwies wie in Henley. Er blieb jedoch immer «der Kleine» im Boot, der sich seinen Platz in der «eingefleischten Mannschaft» erkämpfen musste. 

Für Moccand war es «ein gewaltiges Ereignis», an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen. Auf den vergilbten Kartonseiten mit sorgfältig eingeklebten Zeitungsartikeln, Ranglisten und Fotos haftet noch der Stolz des jungen Laboranten-Lehrlings an. Auf einer Seite ist die Abbildung eines Swissair-Flugzeugs eingeklebt. «Mit dem Flugzeug nach London! Das war etwas», erinnert sich der spätere Chemiker und Politiker. 

Der erste «Televisor»

In London logierten die jungen Ruderer wie Fürsten. Während die anderen 27 Rudernationen in Armeeunterkünften und Turnhallen untergebracht waren, wohnten sie dank guten Beziehungen sehr nobel als Gäste im Hause Gilette – dem Chef des gleichnamigen Unternehmens. «Er schenkte sogar jedem von uns einen Rasierapparat!», erzählt Knecht. Auch Schriever erinnert sich: «Es war ein wunderbares Haus in der Nähe der Themse. Mit kurzgeschnittenem Rasen bis hin zum Wasser, typisch englisch eben.»

Vor und nach den Wettkämpfen genossen sie die freie Zeit im guten englischen Hause. Im Garten, wo sie erstmals einen «Televisor» laufen sahen. Oder in einem «netten Beizli», wo man ein «Spiel mit Pfeilen» spielte. Sie tranken im Garten Whiskey und gossen damit die Blumen, wenn sie dabei gestört wurden. Schliesslich hatten sie sich verpflichtet, während Olympia keinen Alkohol zu trinken und nicht zu rauchen. Die schönen Blumen im Garten Gilettes seien im Verlauf der Olympischen Spiele leider eingegangen, sagt Knecht. 

Prinzessin Elisabeth, die Schöne

Für die fünf Schweizer Ruderer unterschieden sich die Olympischen Spiele nicht stark von einer anderen Regatta. «Es war ein grosser Vorteil, so gediegen zu wohnen», sagt Schriever. Zu anderen Olympioniken hatten sie jedoch keinen Kontakt. Von der Eröffnungs- und der Schlussfeier sowie von anderen Sportarten bekamen sie nichts mit. Auch die Stadt bekamen sie nie zu Gesicht. 

Dafür sahen sie Prinzessin Elisabeth, die heutige Königin Englands. «Sie war im Motorboot gekommen, um unser Rennen zu sehen!», erzählt Reichling. Knecht lacht: «Sie hat mir sehr gut gefallen!»

Die vier Herren geniessen es, sich an ihre Jugend zu erinnern. Und Moccand, der seine Kameraden seit über 60 Jahren nicht mehr gesehen hat, ist die Freude ins Gesicht geschrieben. Er nimmt die Medaille hervor, ein schönes, schweres Stück Silber, Olympia und die griechischen Helden sind darauf abgebildet. Sie erhielten sie ohne Hymne oder Feier. Damals sei man noch nicht als Sieger gefeiert worden. Damals ging es laut Coubertin schliesslich ums Mitmachen, nicht ums Siegen. 

«Man denkt gerne daran.» Mehr nicht.

Zurück in der Schweiz kam ein Gratulationsschreiben des Militärdepartements. Der Zürcher Seeklub machte eine kleine Siegesfeier. Und hie und da rief danach eine Schule an und wollte sich eine der Medaillen ausleihen. 

Keiner der fünf Ruderer vergass je, dass er in jungen Jahren an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte. Bis heute erhalten sie Post von Olympiasammlern, die eine Unterschrift von ihnen wollen. Und sie sind stolz, als Medaillengewinner im Olympischen Museum in Lausanne verewigt zu sein. Ihr Leben haben die Spiele jedoch nicht geprägt. «Man denkt gerne daran», sagt Schriever. Mehr nicht.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen ist der Beitrag über Turmspringer Ernst Strupler. Lesen Sie auch das Porträt der Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Text wurde für den Olympiablog verfasst.

Markus Osterwalder: «London 2012 - Design ohne Seele»

Sieben Tage lang durfte ich den Fackellauf durch Griechenland begleiten, von der Entzündung des olympischen Feuers in Olympia  bis zur Übergabe an Sebastian Coe, den Präsidenten des Organisationskomitees von London 2012. Ich bin sehr glücklich, dass ich dieses ganze Ereignis einmal erleben durfte. Es waren sieben interessante und für mich als Olympiasammler sehr bereichernde Tage. Eine grosse Enttäuschung bleibt aber, denn ich hatte gehofft, dass auch ich einen Teil mit der Fackel in der Hand absolvieren dürfte, aber das Versprechen seitens des Griechischen Olympischen Komitees wurde leider nicht eingehalten. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt, doch sie hatten bereits alles durchgeplant. Mein Trost: In Rio 2016 werde ich auf jeden Fall Fackelläufer sein, das habe ich bereits in die Wege geleitet. Wahrscheinlich werde ich durch den Urwald rennen.

Wir - zwei weitere Olympiasammler und ich - hatten eine Akkreditierung, mit der wir überall rein und raus konnten. Wir konnten deshalb sehr vieles erleben. Wir lernten Griechenland kennen, es ist ein wunderschönes Land. Es ist unglaublich, welche Logistik hinter dem Fackellauf steckt. Der Ablauf war jeden Tag ähnlich: Der Auto-Konvoi des Fackellauf-OKs fuhr ins nächste Städtchen, durch das der Fackellauf führte und sich die lokale Prominenz zusammengefunden hatte, stellte als erstes die grosse Schüssel auf und bereitete alles vor. Dann wartete man auf den Fackelläufer, der das Feuer entzündete.

Und dann begann das Rahmenprogramm, meistens folkloristische Tänze. Und die Reden. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Reden in so kurzer Zeit gehört! Die Griechen lieben Reden! Am Schluss der Zeremonie entzündete der nächste Fackelläufer seine Fackel und lief los. Und die Festlichkeiten zogen weiter: Alles wurde eingepackt, um am nächsten Ort gleich wieder ausgepackt und aufgestellt zu werden. So ging es sieben Tage lang, täglich zwei bis drei Mal. Wir drei Olympiasammler fuhren immer am Schluss des Auto-Trosses. Das passte, denn jedes der 16 Autos hatte seine Funktion: In einem waren die Sicherheitsleute, im nächsten die Organisatoren der Zeremonien oder jene, die die Unterkünfte organisierten. Und am Schluss eben wir, die «Touristen».

Leider haben wir nicht allzu viele Beteiligte des Fackellaufs näher kennengelernt. Die Griechen nahmen uns als Störfaktor wahr, was die Kommunikation mit ihnen erschwerte. Erst gegen Schluss war es möglich, Gespräche mit ihnen zu führen.

Abends hatten wir unser eigenes Programm. Und manchmal liessen wir auch eine Zeremonie aus. Und machten stattdessen das Postamt der Stadt ausfindig. Mein Sammlerkollege, mit dem ich unterwegs war, ist Olympia-Philatelist. Das heisst, er sammelt Olympia-Briefmarken und alles darum herum. In den grösseren Städten, durch die die Fackel getragen wurde - insgesamt sieben -, gab es einen Olympia-Sonderstempel. Mein Kollege setzte alles daran, jeden einzelnen dieser Stempel zu erhalten. Mitsamt Sonderumschlag und spezieller Olympia-Briefmarke (wenn auch die olympischen Ringe wegen den IOC-Gebühren jeweils nicht drauf waren). Er war unglaublich hartnäckig und machte auch vor einem geschlossenen Postbüro nicht Halt. So auch an jenem Sonntagabend, als er den Postchef, der in Athen weilte, überredete, die Postfiliale nur für uns öffnen zu lassen. Diese philatelische Schatzjagd war ein Teil unserer Reise. Ich kenne nun wohl jedes Postamt Griechenlands. Das war natürlich auch für mich spannend. Aber ich bin kein Philatelist - mich interessiert das Olympia-Design. Das Darum-Herum von Olympischen Spielen. Ich sog auf der Reise jedes Detail auf.

So etwa alles rund um die Fackel. Wie die Kisten mit den Fackeln am neuen Ort aus dem Lastwagen gehoben wurden. Oder wie der Engländer - er war Mitdesigner der Fackel - jede Fackel eigenhändig zusammenschraubte. Er hatte eigens dafür ein Gestell gebaut, damit es schneller ging. Das fand ich unglaublich spannend. 600 Fackelträger durften das Feuer in Griechenland weitergeben. 8000 werden es in England sein, bis das Feuer am 27. Juli in London ankommen wird. Insgesamt wurden 12 000 Fackeln produziert. Die 8600 Fackelträger dürfen ihre Fackel behalten, die restlichen 3400 werden an wichtige Leute verschenkt. Ich habe leider noch keine ergattert für mein Olympia-Museum. Noch sind sie zu teuer.

Als «Olympic Design»-Kenner interessiere ich mich natürlich sehr fürs Design der Fackel. Ich finde sie ok. Sie ist kein Traum, aber auch nicht schlecht. Solides Design, aber ohne richtige Idee dahinter. Sie ist golden, das ist ein Novum, das hat es noch nie gegeben. 8000 Löcher stehen für die 8000 Läufer in England, das Dreieck steht für die drei olympischen Grundideen Höchstleistung, Respekt und Freundschaft. Das ist nicht sehr kreativ. Vor allem, wenn man sie mit früheren Fackeln vergleicht!

Athen: Die Fackel hatte die Form von Olivenbaumblättern in getrockneter Form. Sydney: Das Design der Fackel war inspiriert von den Bögen des Opera House. Und von einem Boomerang. Peking: Die Fackel als Papyrus, diese Fackel war wahnsinnig schön. Sie alle hatten eines gemeinsam: eine Geschichte. Die Geschichte des jeweiligen Landes. Die Fackel von London hat keine Geschichte. Sie ist eine funktionstüchtige Fackel und fertig. Das gleiche gilt übrigens auch für die weiss-goldene Uniform. Das enttäuscht mich, da hätte ich von London mehr erwartet. Alles ist konservativ, etwas langweilig, ohne Geschichte dahinter. Auch die Medaille! Über die Medaille von Peking 2008 könnte man ein Buch schreiben. Jene von London: ohne Geschichte. Dabei gäbe es in London viele gute Designer. An früheren Olympischen Spielen versuchten die Designer, den Sachen eine Seele zu geben. In London sind sie einfach nur eines: nüchtern. Am schlimmsten sind die Piktogramme. Jene von Athen waren wunderschön, antiken Vasenmalereien nachgebildet. Jene von London sehen aus, als hätte sie ein Kindergartenkind gezeichnet. Keine schönen Formen, unausgeglichen. Das ist schlimm.

Ein persönliches Highlight der Reise war für mich die Begegnung mit der Design-Chefin von Athen 2004. Mit ihr konnte ich ewig über Olympiadesign, Ideen und Visionen fachsimpeln. So habe ich beispielsweise die Idee, ein Designprogramm für Olympische Spiele aufzugleisen. Bisher musste jeder Austragungsort von Null anfangen. Dabei könnte das neue OK von den früheren Austragungsorten profitieren. Ich habe in meinem Olympiamuseum alle nur möglichen Informationen zum Design von allen Olympischen Spielen gesammelt. Diese Informationen möchte ich zugänglich machen.

Grundsätzlich bin ich beeindruckt, wie professionell die Griechen - entgegen ihrem Ruf – den Fackellauf organisierten. Man merkte, dass sie dies nicht zum ersten Mal machten. Ich habe insbesondere das Ambiente im Panathinaiko-Stadion, dem ersten Olympiastadion der Neuzeit, ganz tief in mich einwirken lassen. Ich konnte mir richtiggehend vorstellen, wie die Spiele damals, 1898 waren. Und auch hier interessierten mich natürlich insbesondere die Details: Wie waren damals die Stühle nummeriert? Wie organisierte man die Eintrittskarten? Wo sass die Königin?

Sehr speziell war auch die Zeremonie an der türkischen Grenze. Wir drei Olympiasammler waren die einzigen Zuschauer, die restlichen Leute waren alles ranghohe Offizielle oder Polizisten. Das Ganze war skurril, insbesondere, wenn man an das angespannte Verhältnis zwischen den Türken und den Griechen denkt. Da war auf der einen Seite die griechische Fahne, auf der anderen die türkische, zwei Wächter und dazwischen ein Fluss und eine Brücke. Mitten in der Pampa. Die Türken kamen über die Brücke, es wurden Hände geschüttelt und in der Mitte der Brücke das Feuer angezündet. Ich rechnete damit, dass die Griechen den Türken eine Fackel schenken würden. Das wäre doch ein guter Moment gewesen, ein Zeichen zu setzen, schliesslich ist Freundschaft einer der Hauptpfeiler der Olympischen Spiele. Doch der OK-Chef des Fackellaufs drückte dem türkischen NOK-Präsidenten einen Pin in die Hand. Einen Pin!! Ob das eine Provokation war?

In der Schlusszeremonie in Athen kamen dann die Stars. David Beckham war da. Und Prinzessin Anne, die Tochter von Königin Elisabeth II., sie ist IOC-Mitglied. Es war sehr schön, so nah dran sein zu dürfen. Der Präsident vom Griechischen Olympischen Komitee erhielt das Feuer von der Oberpriesterin, die bereits bei der Entzündung des Feuers am ersten Tag dabei war. Dann entzündete er mit der Fackel zusammen mit Prinzessin Anne ein Lämpli und ging mit ihr Hand in Hand aus dem Stadion. Und schon ging der Fackellauf weiter. Nun aber in England.

Markus Osterwalder ist Grafiker und Olympiasammler. Sport ist für ihn Nebensache - sein Herz schlägt für das Design von Olympischen Spielen. In London 2012 wird er wie an vergangenen Olympischen Spielen erneut auf die Suche gehen nach den kleinen Details.

Bilder: Markus Osterwalder​

Text: aufgezeichnet von Manuela Ryter

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.​

«Wir haben gefroren in London»

An den Olympischen Spielen in London 1948 flog und fror Turmspringer Ernst Strupler um die Wette. 40 Jahre später noch bestieg der damals 70-Jährige den 10-Meter-Turm. Nun macht er seine waghalsigen Sprünge nur noch mental – dafür umso perfekter.

Es war kalt im Sommer 1948. Es war einer der kältesten Sommer überhaupt, an die sich Ernst Strupler erinnern kann. Und das sind doch immerhin ein paar, mit seinen 94 Jahren. Es war so kalt, dass das Schwimmbad in Baden, in dem der damals knapp 30-Jährige seine kunstvollen Sprünge vom 10-Meter-Turm trainieren konnte, geschlossen blieb. Strupler bekam einen Schlüssel und trainierte trotzdem. Für einmal nicht beobachtet von vielen jungen Frauen, die der athletische Mann mit den blonden Locken sonst mit Doppelsalti und komplizierten Schrauben- und Handstandsprüngen beeindruckte, sondern im leeren Bad unter Aufsicht seiner Frau.

«Sie sass am Bassinrand, mit unserem Ältesten im Kinderwagen – für den Fall, dass mir etwas passiert wäre», erinnert sich Strupler und lacht verschmitzt. Es ist ein schüchternes, fast zahnloses Lachen. Passiert ist dann zum Glück nichts Aussergewöhnliches. «Ausser dass mein Sohn bei jedem Sprung herzzerreissend schrie und erst aufhörte, wenn ich wieder auftauchte.» 

Auch im kriegsversehrten London war es kalt. Durch den «Wembley Empire Pool», die olympische Schwimmhalle unmittelbar neben dem riesigen Stadion, zog ein eisiger Wind. «Wir haben gefroren», sagt Ernst Strupler. Dies ist die stärkste Erinnerung, die er an die Olympischen Spiele von 1948 hat. Mit Zug, Schiff und Bus waren die 165 Athleten und sieben Athletinnen der Schweizer Delegation an die Spiele gereist. Für den jungen Turmspringer sollten sie zur grossen Enttäuschung werden. Der mehrfache Schweizermeister, der es gewohnt war zu den Besten zu gehören, erreichte in London nur den 25. Rang. 

«Miserable Umstände»

In London war alles anders, als es der talentierte junge Schweizer gewohnt war. «Die Umstände waren miserabel», sagt Strupler heute, 64 Jahre später. Zwar gelangen ihm in der ersten Runde «ordentliche» Sprünge. Der «Handstand Durchschub» etwa oder der «fliegende Doppelsalto». Die Schweizer Schwimm-Delegation sei aber schlecht vorbereitet gewesen, «eine völlige Nietenbande!».

Und so kam es, dass die Athleten anderer Nationen bequem mit dem Auto an die Spielstätten chauffiert wurden, Ernst Strupler und Willy Rist, der zweite Schweizer Turmspringer, hingegen in aller Frühe mit der «Untergrund» anreisen mussten. Einen Beutel Milch und ein Stück Brot, am Abend zuvor beim Nachtessen entwendet, im Sack. «Dabei hätte ich mich doch gerne vor dem Wettkampf aufgewärmt und ein paar Sprünge gemacht!» 

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Vergessen hat er das bis heute nicht. Auch nicht, dass er mit den Österreichern, den einzigen Athleten, die er in London kannte, hätte mitfahren können. Doch deren Delegationschef sei mit jenem der Schweizer zerstritten gewesen und habe ihm die Mitreise verweigert. Auch während des Wettkampfs war niemand da für die zwei Schweizer. Die ungewohnt langen Wartezeiten machten dem ehrgeizigen Athleten mental zu schaffen. Sein Unverständnis gilt noch heute dem damaligen Delegationschef der Schweizer Schwimmer, der es laut Strupler unterlassen hatte, für seine Athleten zu sorgen. «Er ging lieber ins Pub, als uns zu betreuen.»  

Ernst Strupler schüttelt den Kopf. Er, der heute im Altersheim in der Nähe von Bern ein sonniges Zimmer bewohnt und manchmal tagelang nicht redet, kommt richtig in Fahrt, obwohl er nur noch leise und langsam sprechen kann. Man spürt den Kampfgeist, der den ehemaligen Spitzensportler und leidenschaftlichen Turnlehrer früher antrieb. Der ihm sogar einen Prozess bescherte, weil er am Ende der Olympischen Spiele gegen besagten Delegationschef aufmüpfig wurde und statt an einem Länderwettkampf teilzunehmen ohne Pass und Geld die Rückreise in die Schweiz antrat. Doch davon später.

Mit dem Ägypter in der Badewanne

Denn da war noch das mit den Badewannen. Jenen Wannen, die andere Nationen für ihre Athleten mieteten. In denen die Athleten dann in den langen Wartezeiten sassen und sich aufwärmten. Die Schweizer hatten keine Badewanne, «auch das hat der Delegationschef versäumt», sagt Strupler. «Die anderen Athleten badeten und wir Schweizer standen da und schlotterten.» Irgendwann hatte ein Ägypter Mitleid und lud Strupler in seine Badewanne ein. Er blieb einer der wenigen Athleten, die Strupler während den Spielen kennenlernen durfte. 

Vom olympischen Geist, vom völkervereinenden Mythos, der die Olympischen Spiele bis heute umgibt, sei nicht viel zu spüren gewesen. Dabei hatte sich Strupler, der leidenschaftliche Turnlehrer und Trainer, der sich sogar in seiner Dissertation mit Sport und Olympia befasst hatte, darauf fast am meisten gefreut.

Die Amerikaner sprangen schöner

Dafür kam der ehrgeizige Athlet in London mit einem anderen Phänomen in Berührung: den Amerikanern. Noch nie zuvor hatte er die Amerikaner springen sehen. Und als er dann in London in der ersten Wettkampf-Runde zuschaute, wie unglaublich elegant und schön die Amerikaner vom Turm sprangen, wie präzise sie Absprünge und Rotationen ausführten, so anders und so viel perfekter als die Europäer, war er fasziniert. Die Amerikaner waren eine andere Dimension. 

«Und dann machte er seinen grössten Fehler», erzählt Ueli Strupler, der älteste Sohn, dem der Olympionike während seines langen Lebens viele seiner Geschichten anvertraut hat: «Statt sich zwischen der ersten und der zweiten Runde zu erholen, trainierte er.» Er wollte so gut wie die Amerikaner springen, war übermotiviert. Und scheiterte. Beim «Doppelsalto rückwärts gehechtet» erhielt er eine Null. Der elfte Rang aus der ersten Runde ging verloren.

«Zeitlebens hat er danach als Trainer gepredigt, dass man kurz vor oder während eines Wettkampfs nicht mehr trainiert», sagt der Sohn. Und noch heute ist der alte Mann fasziniert davon, mit welch professionellem Team die Amerikaner damals antraten. Strupler streicht sachte und stolz über das Foto, das ihn mit dem Olympiasieger Sammy Lee zeigt. «Der kam mir bis zur Achselhöhle!», sagt Strupler, «er sprach mich an und fragte mich, ob ich Ringer sei – gross und muskulös wie ich war.» Beide wurden sie in London dreissig Jahre alt.

Rückreise ohne Pass und ohne Geld

London 1948 waren die ersten Spiele der Nachkriegszeit. Deutschland und Japan durften nicht teilnehmen, die UdSSR verzichtete. Strupler, der im Militär Fünfkampf trainiert hatte und somit auch während des Kriegs immer viel Sport machen konnte, erinnert sich jedoch nicht an die zerbombte Stadt. Dafür umso besser an seine abenteuerliche Heimreise von den Spielen: Mit der Delegation ging er weiter nach Amsterdam. Strupler weigerte sich vor dem Wettkampf, «auch nur einen weiteren Tag» unter dem verhassten Delegationschef zu starten. Doch dieser gab Geld und Pass für die Rückreise nicht heraus.

Strupler setzte sich trotzdem ab. Auf einer «Rundfahrt durch die Kanäle» pumpte er eine Schweizerin an. Durch sie kam er zu einem Hotel-Pianisten, der Geld in die Schweiz transferieren wollte. Und tatsächlich: Der Pianist vertraute Strupler sein Geld an und dieser konnte damit in die Schweiz reisen. «Dank der Olympia-Uniform und meinem Armee-Ausweis kam ich auch ohne Pass weiter.» Der alte Mann schüttelt den Kopf, als könne er die Geschichte heute noch nicht glauben.

Der Sport lebt im Kopf weiter

Strupler räuspert sich, er rückt seinen gelähmten Arm zurecht, versucht sich im Rollstuhl aufzurichten. London 1948 rückt plötzlich in weite Ferne. Doch dann blitzt es in seinen Augen auf. In Peking 2008, sagt er, dort sei er viel besser gewesen. In Peking habe er vier Goldmedaillen geholt. Er sagt es mit Stolz.

Ernst Strupler hat sein Leben dem Sport gewidmet. Er hat den Sport gelebt. Und als Spitzensportler und Politiker für den Breitensport gekämpft. Als erster Sportprofessor der Uni Bern baute er dort das Sportinstitut auf und arbeitete gleichzeitig mit voller Leidenschaft als Turnlehrer. Er war Sportdirektor der Stadt Zürich. Und er nahm noch als 70-Jähriger, als er wegen Hüftproblemen kaum mehr gehen konnte, auf dem 10-Meter Anlauf, um einen seiner Sprünge zu zeigen (und wurde mit seiner veralteten Springmanier als «Acapulco-Springer» berühmt). Seine Frau war Turnlehrerin. Und auch seine sechs Kinder wurden mit einer Ausnahme alle Turnlehrer.

Und alle – ausser Ueli, dem Ältesten, «wahrscheinlich von den Olympia-Vorbereitungen des Vaters traumatisiert» – wurden sie Turmspringer. Wie auch viele der Enkelkinder. Sport war der rote Faden in seinem Leben. Strupler bildete gar als 80-Jähriger noch Turmspringer aus und schlief mit ihnen im Trainingslager im Massenlager. Bis ihn ein Hirnschlag aus seinem bewegten Leben katapultierte und kurz darauf ein schwerer Autounfall ihn endgültig an den Rollstuhl fesselte. 

Seither übt der belesene Mann seine sportlichen Abenteuer im Kopf aus. Er besteigt den Himalaya. Er nimmt in Peking an den Olympischen Spielen teil und gewinnt vier Medaillen. Wehe, wenn jemand sagt, dass er das nur erfunden hat. Er kann sich an jedes Detail erinnern. Ist dies die Verwirrung eines alten Mannes? Vielleicht. Oder ist es die Überlebensstrategie eines vom Alter gezeichneten Spitzensportlers und Bewegungsmenschen? Wohl eher. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Es ist die Leidenschaft für den Sport, die zählt.

Strupler wird nie aufhören mit Turmspringen. «Es ist eine schöne Sportart. Sie verlangt Mut und Körperbeherrschung. Das Fliegen ist einfach schön. Und die Angst, die macht es gerade aus: Man macht den Sprung trotzdem und ist danach zufrieden mit sich selbst.» Welche Sprünge Ernst Strupler wohl für London 2012 geplant hat?

Mehr Informationen zu Ernst Strupler, der die Entwicklung des Sports in der Schweiz mitgeprägt hat, lesen Sie in seiner Biographie.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Lesen Sie auch den Artikel über die fünf Ruderer, die in London 1948 dank enger Kameradschaft Silber gewonnen haben. Oder das Porträt über die Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

«Ich liebe die Geschwindigkeit»

Mit feinsten Körperbewegungen bringt «Swiss Olympic Top Athlete» Martina Kocher ihren Rodel auf Geschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern. Und sie wird immer schneller: Die 25-jährige Bernerin kommt der Weltspitze mit jedem Rennen etwas näher.

Martina Kocher ist jung, hübsch und vor allem: schnell. Mit ihrem Rodel jagt sie mit weit über 100 Stundenkilometern den Eiskanal hinunter. Und wäre sie nicht Rodlerin geworden, dann wahrscheinlich Skirennfahrerin. Oder sie hätte sich dem Motorsport gewidmet. Denn: «Hauptsache schnell», sagt die 25-Jährige. So sei sie schon immer gewesen – ob im Rodel oder auf den Ski.

Auf dem Rodel muss Kocher mit kleinsten Bewegungen auf die Geschwindigkeit reagieren können: «Ich muss sie fühlen», sagt die Bernerin. Es sei ein «cooles» Gefühl, so schnell im Eiskanal unterwegs zu sein: «Man spürt den Druck in jeder Kurve und nimmt den Zug mit – ich kann die Geschwindigkeit richtig geniessen.»

«Immer so ehrgeizig»

Kocher sitzt in einem Stadtcafe in Bern. Sie liebe die Berner Innenstadt. Die Gassen und Lauben. «Ich könnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu wohnen.» Dabei ist Martina Kocher immer auf Achse. Seit sie als 15-Jährige alles auf die Karte Sport setzte, lebt sie aus dem Koffer. Offiziell wohnt sie in Hinterkappelen bei Bern. Als Zeitsoldatin trainiert sie in Magglingen (siehe Kasten). Und seit 10 Jahren trainiert sie zusätzlich mit den deutschen Rodlerinnen im Militärsportzentrum in Oberhof in Deutschland. Und im Winter zieht sie von Rennen zu Rennen. Die Tage in Bern sind rar.

Am Tag zuvor flitzte Kocher an den Weltmeisterschaften in Turin auf den achten Rang, das zweitbeste Resultat ihrer Karriere. «Zuerst war ich enttäuscht», sagt sie, «im Training war ich überzeugt, dass der vierte bis sechste Rang drin liegt.» Aber eigentlich sei der achte Rang «ganz ok», sagt sie und fügt fast entschuldigend an: «Man ist halt immer so ehrgeizig.»

Kocher gegen Goliath

Im Rennzirkus kämpft Kocher gegen Goliath: die Deutschen, ihre Trainingskolleginnen und seit langem die Leaderinnen im Rodeln. Aber eigentlich kämpfe sie – im Gegensatz zu den restlichen Rodlerinnen – mit den Deutschen, nicht gegen sie, sagt die Start-Spezialistin: «Sie sind mein Team und meine Freundinnen, ich fiebere immer mit ihnen mit.» Allerdings mit einem klaren Ziel vor Augen: Sie eines Tages zu schlagen.

Diesem Ziel kommt Kocher immer näher. Im Training hat sie die Deutschen schon mehrmals geschlagen. Und im Januar zeigte sie am Weltcuprennen in Oberhof mit dem fünften Platz, dass man an der Spitze schon bald mit ihr rechnen muss. Technisch ist sie den Besten schon jetzt häufig überlegen. Wäre sie zehn Kilo schwerer, würde sie im Eiskanal schon lange wie in Juniorinnenjahren um die Podestplätze fahren. Denn eine perfekte Rodlerin ist gross, schmal und schwer. Kocher ist gross, schmal, aber sie ist ganz klar das Leichtgewicht unter den Rodlerinnen. Für eine gute Zeit muss sie besser fahren und darf sich weniger Fehler erlauben. Sie habe noch viel Potenzial, sagt Kocher. Und genau das sei ihr Antrieb, nicht die Medaillen: «Ich will mich stetig verbessern.» Bis Sotschi 2014 vergehen immerhin noch drei Jahre. Es wären ihre dritten Olympischen Spiele.

Karriere nur dank Zusammenarbeit mit deutschem Team

Für Kocher ist klar: Ohne das deutsche Team wäre sie nicht dort, wo sie heute ist. Dank des Engagements des Internationalen Rodlerverbandes übernehmen grosse Nationen Patenschaften für kleine Nationen – und trainieren sozusagen ihre Konkurrenz. Kocher, die das Zimmer jeweils mit Olympiasiegerin Tatjana Hüfner teilt, profitiert dank der Integration ins deutsche Team von perfekter Infrastruktur und Know-how. Denn in Deutschland ist Rodeln eine traditionell beliebte Sportart mit viel Ansehen. Es gibt viele Nachwuchsathleten und immer wieder Ausnahmetalente. Und wenn ein Talent entdeckt ist, kommt es schon im frühen Alter ins staatliche Fördersystem, welches «bis aufs Letzte ausgereizt wird», sagt Kocher: «Die Grundvoraussetzungen, damit ein Talent sich entfalten kann, sind vorhanden.»

Und dies ist im Rodelsport entscheidend. Denn ganz anders als im Bobsport, zu dem ein Sportler auch noch mit 25 wechseln kann, muss ein Talent bereits im Kindesalter voll aufs Rodeln setzen. Es brauche enormen Aufwand, um die Sensibilität, mit der der Rodel gesteuert wird, aufzubauen, sagt Kocher: «Ich zucke ganz leicht mit der Schulter und der Rodel reagiert.» Rodeln sei deshalb mit dem Skisport vergleichbar. Nur dass das Rodeln weniger gefährlich sei: «Bei uns fliegt bei einem Sturz nicht gleich alles durch die Gegend.» Das Handeln der Organisatoren vor dem tödlichen Unfall des Rodlers während den Olympischen Spielen in Vancouver sei «massiv fahrlässig» gewesen, sagt Kocher – die besten Athleten der Welt hätten schon lange im Vorfeld auf die Gefahr der zu schnellen Bahn hingewiesen und Verbesserungsvorschläge erarbeitet. «Wir wurden jedoch ignoriert.»

Weinend in den Eiskanal

In der Schweiz ist Rodeln eine Randsportart. Zum Rodeln komme man nur durch Beziehungen, sagt Kocher. So war ihr Vater Bobfahrer und später Trainer der Rodler. Als sie neun Jahre alt war, nahm er sie mit an ein Rennen. Das aufmüpfige Mädchen forderte sogleich: «Ich will auch!» Und der Vater nahm sie ernst. Noch am gleichen Tag organisierte er eine Rodelfahrt für seine Tochter. «Als ich dann oben stand und in den Eiskanal hinuntersah, begann ich zu weinen und wollte nicht mehr», erzählt Kocher lachend. Doch der Vater akzeptierte den Rückzieher nicht, setzte sie in den Schlitten und liess los. «Noch während der Fahrt wichen die Tränen einem Strahlen», erzählt Kocher. Sie wollte mehr. Seither hatte sie im Eiskanal nie mehr Angst. Seither ist Rodeln ihr Leben.

Auch heute muss Kocher für ihre Karriere kämpfen. Während ihre Freundin Tatjana Hüfner «alles auf dem Silbertablett serviert bekommt» und in ihrem Alltag kaum Entscheidungen treffen muss, organisiert Kocher ihren Trainings- und Wettkampfalltag selbst. Auch in finanzieller Hinsicht. Dafür sei sie sich «die Belastung des Alltags gewohnt», sagt Kocher, die 2009 ihr Sportstudium abgeschlossen hat und seither in ihrer trainingsfreien Zeit wochenweise arbeitet. Diese Belastung sei auch ein Vorteil, sagt sie: «Ich werde nicht auf die Welt kommen, wenn ich nach meiner Sportkarriere ins Berufsleben einsteige.»

Mehr Unterstützung seit Vancouver 2010

Seit den Olympischen Spielen in Vancouver 2010 sei vieles einfacher geworden, sagt Kocher: «Ich spüre viel mehr Anerkennung aus der Schweiz.» Dank dem Olympiadiplom – in Turin 2006 hatte sie es um nur 18 Tausendstelsekunden verpasst – wird sie heute als «Swiss Olympic Top Athlete» finanziell unterstützt. Und der Schweizerische Bobsleigh-, Schlitten- und Skeletonverband hat jemanden angestellt, der ihr viel Organisatorisches abnimmt.

Ein weiterer Meilenstein ist für Kocher die 50-Prozent-Anstellung als Zeitsoldatin in der Schweizer Armee (siehe Kasten). Damit ist Kocher gewissermassen eine der ersten «Berufssportlerinnen» der Schweiz – ein Luxus, sagt sie. Denn schiessen und durch den Dreck robben musste sie nur während der Spitzensport-RS. Nun heisst Militär für sie Trainieren. Zum Glück, sagt sie, denn sie habe enorme Angst vor dem Schiessen, einzig einrücken müsse sie in Uniform. «Die RS war sehr ungewohnt – und trotzdem war ich am Schluss stolz, meine Angst überwunden zu haben.» 

​Dieses Porträt erschien im Olympiablog von Swiss Olympic.

Text und Porträtbilder: Manuela Ryter

Das Ende der Weltrekorde ist noch fern

Sportlerinnen und Sportler werden immer schneller, Weltrekorde purzeln seit den ersten modernen Olympischen Spielen. Damit soll bald Schluss sein, sagen Wissenschaftler. Doch Usain Bolt und Michael Phelps belehrten sie in Peking eines anderen. Wird der Mensch auch in Zukunft immer schneller? Oder sind die physischen Grenzen irgendwann erreicht?

Der Beste zu sein, die Schnellste, der Stärkste – das ist und war schon immer eine Triebfeder für jeden Sportler, der Hintergrund eines jeden Wettkampfs. Der Beste des Dorfs, der Schnellste der Stadt, die Stärkste des Landes, von Europa und schliesslich der Welt zu sein, dieses Streben nach Perfektion ist im Sport so verankert wie der Ball im Fussballspiel. Das höchste Ziel dabei: Der Beste aller Zeiten zu sein – einen Weltrekord aufzustellen.

Damit soll laut neusten Studien bald Schluss sein, die physischen Grenzen des menschlichen Körpers sollen bald erreicht sein. «Das Ende der Weltrekorde», titelten die Zeitungen im vergangenen Winter denn auch, als Jean-François Toussaint seine Studie präsentierte. Der Leiter des Instituts für Biomedizinische und Epidemologische Forschung des Sports (Irmes) sagte darin das Ende der Weltrekorde im Jahr 2060 voraus. Und zwar in allen klassischen Disziplinen.

In der Studie untersuchte der französische Wissenschaftler insgesamt 3263 Weltrekorde in allen klassischen Sportarten seit dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit 1896. Das Resultat: In allen Disziplinen werden die Sportler immer besser, immer schneller, immer stärker. Doch die Steigerungskurve flacht immer mehr ab.

Toussaint wendet diese exponentiell abfallende Entwicklung für eine Prognose der Zukunft an: Eines Tages wird die Kurve ganz flach und das Maximum erreicht sein. In der Hälfte aller Sportarten und Disziplinen soll dies bereits in 20 Jahren der Fall sein. Denn laut Toussaint haben wir heute bereits 99 Prozent der maximal möglichen Leistungsfähigkeit erreicht. In der Königsdisziplin 100-Meter-Sprint rechnet Toussaint mit einer noch möglichen Steigerung von 14 Tausendstel (Anfang 2008 lag der Weltrekord bei 9,74 Sekunden), im Marathon errechnete er die Leistungsgrenze bei 2:03:08 – 78 Sekunden unter dem damaligen Weltrekord. Der Körper stosse an seine Grenzen.

Leistungsgrenze bereits unterboten

Der Hohn am Ganzen: Die Ergebnisse der Studie hielten nicht einmal ein halbes Jahr stand, die Realität lehrte die Wissenschaft, dass sich die menschliche Leistungsentwicklung nicht in Kurven prognostizieren lässt. Usain Bolt liess die Wissenschaftler im Regen stehen: Die prognostizierte Leistungsgrenze von 9,72 Sekunden erreichte er bereits im Mai 2008. Und mit seinen 9,69 Sekunden, in denen er die 100 Meter an den Olympischen Spielen in Peking rannte (und zwar zum Erstaunen aller auf den letzten Metern bereits im abgebremsten Siegesschritt), unterbot er Toussaints prognostiziertes «Ende der Weltrekorde» um 36 Tausendstel.

Auch Schwimmer Michael Phelps und seine Kollegen liessen im vergangenen Jahr Wissenschaftler und Zuschauer perplex zurück. Ausgerechnet im Schwimmen, wo die Weltrekorde seit Jahren nur in winzigen Schritten purzeln, fielen heuer etliche Rekorde. In Peking gab es Rennen, in denen gleich mehrere Schwimmer unter der Weltrekordzeit anschlugen. Und auch im Marathon verbesserte Haile Gebrselassie seinen Weltrekord im September in Berlin um unglaubliche 27 Sekunden. Mit einer Zeit von 2:03:59 kommt er Toussaints Leistungsgrenze damit unerhört nah.

Bessere Technik, mehr Leistung

Ist ein Ende der Weltrekorde überhaupt voraussehbar? Oder wird sich der menschliche Körper stets weiterentwickeln? Wird der Mensch auch in Zukunft noch schneller, höher, stärker? «Wir sollten davon ausgehen, dass es immer eine Entwicklung geben wird», sagt Sportwissenschaftler Ralf Seidel von der Leistungsdiagnostik der Schulthess Klinik. Einen der Hauptgründe dafür sieht Seidel in der Entwicklung zukünftiger Technologien: «Sie werden das Training laufend verändern und eine kontinuierliche Leistungssteigerung ermöglichen.»

So hätten beispielsweise die Gegenströmungsanlagen den Schwimmsport massiv verändert. Mit Kameras und Messgeräten kann heute die Qualität des Trainings, die Motorik des Athleten und vieles mehr gemessen werden. «So etwas hätte man sich vor 50 Jahren nicht erträumt», sagt Seidel. Genauso wisse man nicht, welche Technik uns in 50 Jahren erwarte: «Wir werden nicht stehen bleiben.»

Es gebe im Leistungssport noch vieles, das nicht ausgeschöpft sei, sagt Seidel. So seien beispielsweise die Talentsuche und die professionelle Sportförderung noch in keiner Weise ausgereizt. Und auch in den Bereichen Ernährung, Schlaf und Sportpsychologie sieht er noch Lücken – sowohl in der Kenntnis darüber wie auch in der Anwendung des bisherigen wissenschaftlichen Wissensstands: «Da ist noch Verbesserung möglich.» Auch sei die Trainingswissenschaft noch eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich weiterentwickle. «Wenn man schaut, wie man vor 40 Jahren trainierte, kann man heute über die Trainingspläne von damals schmunzeln.»

Wird also nie eine physiologische Grenze erreicht werden? Entscheidend für eine kontinuierliche Leistungssteigerung sei die Steigerung der Qualität des Trainings sowie der Belastbarkeit der Athleten, womit mehr und intensiveres Training möglich werde. Wenn zusätzlich die Erholung – zum Beispiel durch Schlaf und Ernährung – verbessert werde, sei wiederum eine Leistungssteigerung möglich. Ob physiologische Grenzen irgendwann erreicht werden, «spielt gar nicht so eine wichtige Rolle», sagt Seidel. Denn schlussendlich garantiere die beste körperliche Leistungsfähigkeit nicht, dass man am Tag X die Leistungen auch abrufen könne. Zu viele Faktoren, etwa mentale, spielten da eine Rolle. Diese in eine Formel zu packen und daraus Prognosen aufzustellen, sei deshalb rein hypothetisch.

Das von Toussaint erwartete Ende der Weltrekorde dürfte also noch fern sein. Unbestritten ist jedoch: Die Schritte, in denen es aufwärts geht, werden immer kleiner. Weshalb sie jedoch beispielsweise im Schwimmen gerade ansteigen statt kleiner werden, ist allerdings auch den Wissenschaftlern ein Rätsel. Klar zu sein scheint, dass die Steigerung nicht nur auf die neuen Schwimmanzüge zurückzuführen ist, wie dies auch die Hersteller bestätigen.

Weltrekorde nur mit Doping?

Sind Weltrekorde also nur noch mit Doping machbar? So wurden beispielsweise zwölf aktuelle Weltrekorde der Frauen in der Leichtathletik in den 80er Jahren aufgestellt – in der Hochphase von Anabolika. In jener Zeit, als Dopingkontrollen nur an Wettkämpfen, nicht aber im Training durchgeführt wurden. Auch die heutigen Kugelstösser sind weit von den Weltrekorden der 80er Jahre entfernt. Dies spricht wiederum gegen Studien, die Leistungsgrenzen aufgrund von früheren Weltrekorden voraussagen, da sie sich auf zum Teil verfälschte Daten stützen. Laut Toussaint erreicht Doping zwar lediglich, dass die Leistungskurve schneller ansteigt – die physiologische Grenze werde mit Doping jedoch kaum verschoben, denn es sei schon immer gedopt worden, geändert hätten sich nur die Methoden. Allerdings: Ob gerade Gendoping die physiologischen Grenzen künftig nicht doch illegal übergehen könnte – diese Diskussion wird künftig sicherlich im Zentrum stehen, sollten eines Tages die Weltrekorde wieder auffällig schnell purzeln.

​Dieser Artikel erschien am 22. Dezember 2008 im swiss sport 6/08, Magazin von Swiss Olympic.

Text: Manuela Ryter

«Das Glück liegt häufig auf meiner Seite»

2004 wurde Nino Schurter Junioren-Weltmeister, in Peking holte er nun Bronze. Der Weg des 22-jährigen Bikers führt steil nach oben. Dank viel Talent, Glück und angemessener Förderung.

Nino Schurter sitzt im «Café Maron», direkt am Bahnhof in Chur, auf einer mit Seide überzogenen Bank. Neben ihm nippen alte Damen an ihren Cappuccinos und stecken ihre Gabeln tief in klebrig-süsse Kuchen. In grau-schwarz gestreiftem Hemd sitzt er da, die blonden Haare elegant zur Seite gekämmt. Hübsch, jung, bescheiden und stets mit dem Lächeln des netten Jungen von nebenan im Gesicht. 

Der Medienrummel der letzten Wochen hat Schurter ein professionelles Auftreten gelehrt. Seit er im August in Peking beim Cross Country-Rennen vor dem zehn Jahre älteren Landsmann Christoph Sauser als Dritter ins Ziel kam und die einzige Schweizer Medaille der Biker in Empfang nahm, ist Schurter ein gefragter Mann. Überall soll der laut Presse «talentierteste Biker der Welt», der bereits als Nachfolger des französischen Seriensiegers Julien Absalon gefeiert wird, mit dabei sein. «Das ehrt mich natürlich», sagt Schurter. Doch das Leben geht für ihn auch nach einer Olympiamedaille weiter wie bisher. London 2012 wartet.

Wenn Nino Schurter in London Gold holt, wird dies niemanden überraschen. Zu steil ging sein Weg stets nach oben, als dass ihm jemand diesen Exploit nicht zutrauen würde. Aufs Bike sass Schurter bereits als kleiner Junge, damals in Tersnaus, einem winzigen Dorf in den Bündner Bergen. Wie sein Bruder fuhr er erst einmal Skirennen, wie das die meisten sportlichen Kinder in einem Bergdorf tun. Im Sommertraining ging es auf dem Velo in die Berge und bald brausten die Schurter-Brüder auf Bikes statt auf Skis die Berge hinunter. «Wir hatten von Anfang an Erfolg.»

Auch sein Vater liess sich vom Bike-Virus anstecken. In die Ferien ging die Familie Schurter fortan nicht mehr ans Meer, sondern mit dem Bike in die Berge Italiens. Ninos Bruder wechselte später nach einem Unfall zum Downhill, sein Vater ist noch heute Trainer der Schweizer Downhill- Nationalmannschaft.

Viel Training dank Sportlerlehre

Als 16-Jähriger entschied sich Schurter für den Spitzensport. Er verliess sein Elternhaus und zog nach Bern, um dort eine Sportlerlehre zum Mediamatiker zu absolvieren, einer Mischung aus IT, Kaufmännischer Ausbildung und Multimedia-Design. Drei Jahre lang ging er Teilzeit in dieBerufsschule, die ihm viel Zeit fürs Training ermöglichte. Anschliessend machte er ein zweijähriges Praktikum bei einer Werbeagentur, bei der er für die Werbeunterlagen seines Teams, dem Swisspower MTB-Team, zuständig war. «Mein Teamchef war somit indirekt auch mein Chef und sorgte dafür, dass ich genügend zum Trainieren kam», sagt Schurter schmunzelnd.

Der Einsatz zahlte sich bald aus: 2004 wurde Schurter bei den Junioren Welt- und Europameister, als 19-Jähriger Dritter bei der U23-WM und ein Jahr später holte er die U23-Welt- und Europameistertitel, seither ist er in dieser Kategorie fast ohne Konkurrenz. Auch bei den Weltcuprennen in der Elite fährt er seit zwei Jahren vorne mit. Und nun die Olympiamedaille. Nino Schurter, der seit seinem Lehrabschluss vor einem Jahr und der Spitzensport-RS im vergangenen Winter Profibiker ist, sieht der Zukunft zuversichtlich entgegen. «Bisher war das Glück häufig auf meiner Seite.» Er hoffe, dass ihm nun auch der Anschluss an die Elite gelinge.

Erfolg nur dank Unterstützung

Schurters sportliche Laufbahn gleicht einer Bilderbuchkarriere. Während in der U23-Kategorie viele seiner einst genauso talentierten Kollegen den Sport wegen ausbleibender Erfolge an den Nagel hängten, geht der Rätoromane seinen Weg nach oben. Die Medaille in Peking war nun die Krönung. Dabei wäre er schon mit einem Diplom überglücklich gewesen, sagt Schurter. Er sei nicht mit dem einzigen Ziel, Gold zu holen, an den Start gegangen. «Ich habe noch viel Zeit», sagt Schurter. Wenn alles gut laufe, wolle er noch mindestens zwei Mal an Olympischen Spielen teilnehmen. Denn sein Potenzial sei noch nicht ausgeschöpft: «Ich weiss, dass mein Körper noch stärker werden kann, das gibt mir Sicherheit.»

Aber im Sport müsse alles stimmen, damit man Leistungen zeigen könne. Bisher habe er viel Glück gehabt. Er habe sich nie schwerwiegend verletzt und sei stets grosszügig unterstützt worden: In erster Linie durch seine Eltern und Grosseltern, aber auch durch Swiss Olympic, die Sporthilfe und den Club Sport Heart. Heute könne er gut vom Sport leben. «Aber gerade in den Junioren-Jahren war die Förderung enorm wichtig», sagt Schurter. Auch habe ihm die Sportlerlehre ermöglicht, eine gute Ausbildung zu machen, viel zu trainieren und trotzdem Zeit für Freunde und seine Freundin zu haben.

Er gehe auch mal aus, fahre häufig Ski oder spiele ab und zu Golf. Dieser Ausgleich sei ihm immer wichtig gewesen. «Hätte ich eine normale Lehre machen müssen, wäre ich wohl nicht beim Spitzensport geblieben», sagt Schurter, «ich wäre nicht bereit gewesen, für den Sport alles aufzugeben.» Der Spass sei ihm immer sehr wichtig gewesen. Er kenne Athleten, die morgens um sechs Uhr trainierten, dann den ganzen Tag im Lehrbetrieb arbeiteten und abends wieder aufs Bike stiegen. «Das hätte ich nicht lange gemacht. Ich bin nicht der Typ dazu.»

«Nachwuchsförderung könnte noch besser werden»

Die Nachwuchsförderung könnte laut Schurter aber noch besser werden. Denn es sei wichtig, dass es einem gut gehe. «Der Kopf ist zentral im Sport. Wenn dort etwas nicht stimmt, kann man noch so gut in Form sein, erfolgreich ist man nicht.» Die Doppelbelastung mit Sport und Beruf, die eine normale Lehre mit sich bringe, berge die Gefahr, sich zu überfordern, und bei Sportlerausbildungen seien die Möglichkeiten in der Berufswahl eingeschränkt. Doch eine gute Ausbildung sei wichtig, da der Sport viel zu unsicher sei. «Ich habe sehr früh auf den Sport gesetzt und es hätte auch anders kommen können: Man weiss nie, ob man den Anschluss an die Elite schaffen wird.»

Hätte er es nicht geschafft, hätte er ein paar Jahre verloren, da die Sportlerlehre etwas länger dauerte, aber wenigstens eine gute Ausbildung gemacht. Auch die Weiterbildung sei ihm wichtig, sagt Schurter, er werde jeweils im Winter Zeit dafür investieren. «Man muss als Sportler auch an ein Leben nach dem Sport denken.» Denn man wisse nie, wann man die Leistungen nicht mehr erbringe oder wegen einer Verletzung aufhören müsse. Er wolle sich in Richtung Marketing weiterbilden. «Ich kann mir vorstellen, später einmal in der Velobranche tätig zu sein.» Aber das sei noch so weit weg. Nur weil Schurter nun bereits eine Olympiamedaille im Palmarès hat, ist sein sportlicher Ehrgeiz noch lange nicht versiegt.

Dieses Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

«Wir waren damals auch Muskelprotze»

Er war einer der kräftigsten Turner und der beste an den Ringen: Karl Frei gewann vor genau 60 Jahren Olympiagold in London. Während er im Fernsehen die Kunstturner in «Beijing» kritisch beobachtet, erzählt der 91-Jährige, wie er die ersten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung hat.

Zwei Chinesen und sechs Europäer seien im Finale der Ringe-Turner in Peking, berichtet der Kommentator am Fernsehen während der Live-Schaltung aus Peking. Schweizer sind keine dabei. Die Zeiten, als die Eidgenossen im Turnen noch auftrumpften, sind lange her. Karl Frei sitzt gemütlich in seinem Sessel vor dem Fernseher, über dem ein grosses Plakat von den Olympischen Spielen 1948 hängt. «Gleich drei Goldmedaillen haben die Schweizer Turner aus London heimgebracht», sagt der rüstige, 91-jährige Mann.

Frei zeigt auf die Bilder an der Wand in seinem Einfamilienhaus in Regensdorf, wo er seit seiner Kindheit lebt. Auf einem der alten Fotos ist ein Turner mit angespanntem Gesicht zu sehen, die Hände fest an die beiden Ringe gekrallt, die Beine waagerecht nach vorne gerichtet, die Muskeln der Arme aufgebläht und eisern. «Das bin ich», sagt Frei stolz. Ja, kräftig sei er tatsächlich gewesen – einer der kräftigsten Turner überhaupt. Deshalb sei er schliesslich auch Olympiasieger geworden: Weil die Konkurrenz für die Abfolge der Übungen, die Frei zeigte, schlicht zu wenig kräftig war. Während sich die Athleten in Peking aufwärmen, zieht der alte Mann seine Pantoffeln aus, steigt auf die Eckbank und öffnet den Wandschrank, in dem er seine bedeutendsten Auszeichnungen aufbewahrt. «Das war noch eine richtige Medaille», sagt Frei, «nicht so eine zum Umhängen.» Heute ist der 91-Jährige der älteste noch lebende Schweizer Olympiasieger.

«Wir wussten kaum, was eine Olympiade ist»

Am Fernsehen ist nun Iovtchev Iordan, der erste Turner des Ringe-Finals in Peking, zu sehen. Frei verstummt und beobachtet ihn gespannt. Wie er an die Ringe hochgehoben wird. Wie er mit angespannten Armen die Beine beugt und hebt, in den Handstand übergeht und mit ganzer Kraft schwungvoll seine Kür turnt. Diese Schwungteile habe man damals noch nicht geturnt, sagt Frei. Deshalb könne man die Athleten auch nicht vergleichen. «Heute haben sie ‹Rölleli› in den Handschuhen, das ist eigentlich ein Schwindel. Wir haben noch mit blossen Händen geturnt.» Die Kraftteile der heutigen Turner seien aber nicht anders als bei ihnen damals. «Wir waren damals auch Muskelprotze», sagt er, «diese Kraft braucht es halt an den Ringen.» Deshalb hätten sich die Ringe im Gegensatz zu den anderen Disziplinen im Kunstturnen auch kaum verändert.

Dafür war damals sonst alles anders an den Olympischen Spielen. London lag in Schutt und Asche, die Athleten hatten laut Frei untereinander kaum Kontakt. Und Olympia hatte noch nicht eine so grosse globale Bedeutung wie heute. «Es gab ja noch kein Fernsehen», wirft Freis Frau Ruth ein. Einzig in der «Wochenschau» im Kino sei vielleicht mal etwas über die Olympischen Spiele berichtet worden. «Damals wussten wir hier auf dem Land kaum, was eine Olympiade ist», sagt Frei und lacht heiter. Für ihn sei Olympia jedenfalls wie jedes andere Turnfest gewesen. Und sogar in London habe nicht jeder gewusst, dass die Olympischen Spiele stattfanden.

Als Schweizer strenger benotet

Alexander Worobjew, ein Ukrainer, ist an der Reihe. Stramm zeigt er seine Übungen. Exakt und kraftvoll. 16,325 Punkte erhält er für seine Kür. «Das ist ja verrückt», sagt Frei und schüttelt den Kopf. Einen Unterschied zu früher gebe es eben schon: «Wir waren damals Amateure, heute sind alle Profis.» Dreimal die Woche hatte Frei in Regensdorf trainiert – zuerst in einem Weinkeller, dann in einem eigens gebauten Turnschopf. Die nötige Kraft habe er von der harten Arbeit als Schmid und Abwart gehabt: «Ich musste nie in den Kraftraum.» Trotz dem geringen Training sei er im Dorf immer wieder «angezündet» worden: «Die Bauern sagten, ich solle doch arbeiten statt ‹umegumpe›.»

Schweigend schaut Frei die nächste Kür – als Profi, der mit Argusaugen anderen Profis kritisch zuschaut. Yang Wei, der muskulöse Chinese, der nun seine Kür zeigt, beeindruckt Frei nicht. Diesen Schwierigkeitsgrad habe man damals schon geturnt. Einzig «solche Abgänge hat damals noch keiner gemacht», sagt Frei, nachdem Wei seine Kür mit einem Doppelsalto gestreckt mit Doppeldrehung abgeschlossen hat, «wir sind gar nicht auf die Idee gekommen.»

Ganz automatisch mache er die Noten jeweils selber, sagt Frei, als auch der nächste Athlet fertig geturnt hat. Er sei nicht immer einverstanden mit den Kampfrichtern. Frei zuckt mit den Schultern: «Was will man machen?» Bereits als Athlet habe er jeweils akzeptieren müssen, wenn er strenger bewertet wurde als die anderen. Wie etwa damals, in London: «Es hiess, die Schweizer hätten keinen Krieg gehabt und über all die Jahre trainieren können», sagt er, «das stimmte nicht.» Auch die Schweizer seien eingezogen worden. Und im Winter habe man den Turn- schopf nicht heizen können. Nur am Sonntagmorgen, da sei er manchmal um fünf Uhr früh aufgestanden, habe Kohle aus dem Schulhaus in den Schopf gekarrt und geheizt.

Sein Name wurde in London verewigt

Frei beobachtet gespannt, welche Figurenabfolgen die Athleten turnen. Seine Faszination fürs Turnen ist ihm ins Gesicht geschrieben, seine Leidenschaft, die er bis 65 aktiv ausgeübt hat, deutlich zu spüren. Heute mache er nur morgens noch ein paar Turnübungen, sagt Frei. Seinen grossen Garten bestellt er immer noch selbst. Und täglich fährt er mit dem Velo zur Post. Einzig auf Bäume klettere er nicht mehr, seit er vor ein paar Jahren beim Äste sägen heruntergefallen sei.

In Peking geht es nun um die Olympiamedaille, die letzten Turner zeigen ihr Können. Und bald steht fest: Der Chinese Chen Ybing holt Gold, auch Silber geht an China, Bronze an die Ukraine. Was er damals gefühlt habe, als er auf dem Podest stand und den Schweizer Psalm hörte? Das wisse er nicht mehr, sagt Frei. Man vergesse so vieles. Aber wenn er nun die Spiele schaue, kämen viele Erinnerungen hoch. Viel Publikum hätten sie damals nicht gehabt, erzählt er, es habe in Strömen geregnet. «Der Wettkampf musste immer wieder verschoben werden.» Nach drei Tagen und drei schlaflosen Nächten sei er «kaputt» gewesen wie noch nie. Geturnt hat er dann trotzdem besser als alle anderen. «Gold und Silber gingen an die Schweiz, Bronze an Tschechien», sagt Frei stolz und erinnert sich, wie er nach der einwöchigen Rückreise per Schiff und Zug in Regensdorf empfangen wurde: Das ganze Dorf feierte ihn wie einen Helden und führte ihn mit einer Kutsche hinter der Blasmusik her durchs Dorf.

Von London habe er jedoch nicht viel gesehen, sagt Frei. Erst ein paar Jahre später sei er mit seiner Familie zurück gegangen, um sich das Stadion noch einmal anzusehen. «Als ich dann auf einer Tafel mit allen Gewinnern meinen Namen fand, war das schon speziell, da habe ich schön dumm geschaut.» Erst in diesem Moment sei ihm bewusst geworden, was eine Olympiamedaille bedeute.

Diese Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

Fotos: Luc-François Georgi

«Gute Leute finden wir auch im Süden»
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Welche Qualifikationen sind auf dem Stellenmarkt der Internationalen Zusammenarbeit gefragt? Welche Stellen gibt es in diesem Bereich überhaupt? Diese Fragen sind am Samstag am «forum cinfo» in Biel diskutiert worden.

Als fände ein grosses Konzert statt, strömten die Menschen am Samstag vom Bahnhof Biel Richtung Kongresshaus. DerAnsturm auf das «forumcinfo», die Messe zur Arbeit in der Internationalen Zusammenarbeit (IZA), war auch dieses Jahr gross. Für die IZA zu arbeiten, gilt für viele als Traumjob: Man tut etwas Sinnvolles und kann im Kleinen vielleicht sogar di eWelt verbessern, man setzt interessante Projekte um, lebt zeitweise im Ausland, setzt sich mit fremden Kulturen auseinander und lernt die globalen Zusammenhänge kennen. So jedenfalls sieht das gängige Bild des Traumjobs in der IZA aus. 

Vielfältiges Stellenangebot

Als die Messetore geöffnet werden, verteilen sich die Leute auf die vielen Stände auf drei Stockwerken; einige sichern sich sogleich einen Platz in den Räumen, wo Referate, Podiumsdiskussionen und Erfahrungsberichte gehalten und Videoprogramme gezeigt werden, die die Tendenzen im Berufsbild der IZA darstellen und den Newcomern Tipps für den Einstieg geben. Die knapp 1000 Besucher sind denn auch hier, um sich über die Arbeit in der IZA ein profunderes Bild zumachen, sich über potenzielle Arbeitgeber zu informieren und Kontakte zu knüpfen. Jung, dynamisch und engagiert sehen sie aus – und auffallend viele von ihnen sind Frauen.

Schnell wird den Gästen klar: Ob eineStelle in Genf, Washington oder Südamerika, ob als Programmverantwortlicher bei einer NGO, als Analyst bei der Weltbank oder als freiwilliger Arzt in Afrika – die Stellen sind so vielfältig wie die IZA selbst. Grundsätzlich werden unter diesem Begriff die Entwicklungszusammenarbeit (EZA), die Humanitäre Hilfe, die Entwicklungspolitik sowie die Friedensförderung und Menschenrechtspolitik zusammengefasst, deren Vertreter sich an den Ständen präsentieren.

Die verschiedenen Organisationen unterscheiden sich in ihren Aktivitäten stark voneinander, ihr Ziel aber ist dasselbe: die Lebensbedingungen in den Ländern des Südens und Ostens zu verbessern. Und gerade dieses Ziel scheint die Stellen in der IZA so begehrenswert zu machen.

«Macher» sind nicht mehr gefragt

Ausser bei Zivildienst- und Freiwilligeneinsätzen sind die Anforderungen an die potenziellen Mitarbeiter sehr hoch. Die Caritas beispielsweise erwartet von ihren Delegierten einen Hochschulabschluss, mehrjährige Berufs- und Auslanderfahrung, Vertrautheit mit dem Einsatzkontinent und Sprachkenntnisse. Ausserdem setzt sie «viel Lebenserfahrung», Freude am interkulturellen Austausch und das «erfolgreiche Überwinden von Schwierigkeiten» voraus. Handwerker, Lehrer oder Förster, die nach Afrika reisen, um dort Bäume zu pflanzen, Brunnen zu bauen oder zu unterrichten, sind heute nicht mehr gefragt.

Viele Bewerber für wenig Stellen

«Gute Leute finden wir auch in den Ländern des Südens», sagt Daniel Ott, der lange in Bolivien im Einsatz war und heute als Programmverantwortlicher für Swissaid arbeitet. Dieser Trend, die Menschen in den betroffenen Ländern stärker einzubinden, hat zur Folge, dass es im Westen immer weniger Stellen in der IZA gibt. Der Arbeitsmarkt werde austrocknen, sagt Ott.

Heute seien deshalb hohe fachliche und soziale Kompetenzen sowie interkulturelle Sensibilität und hohe kommunikative Fähigkeiten gefragt: «Es braucht Leute, die systematisch Denken und ihr Wissen weitergeben können.» Es brauche nicht mehr in erster Linie Spezialisten, sondern Generalisten für Programmführung, Konzeptarbeit, Wirkungsanalyse, Politdialoge und Öffentlichkeitsarbeit. Dies gilt auch für Jobs mit Arbeitsplatz in der Schweiz, denn diese werden in den meisten Fällen an Leute, die von einem Auslandseinsatz zurückkehren, vergeben.

«Wir raten den Interessenten, sich zu überlegen, wie sie ihre Qualifikationen in unsere Projekte einbringen könnten», sagt Walter Leissing von der Helvetas. «Sie sollen uns Ideen bringen. Das gibt uns Inputs und zeigt, dass sie engagiert, interessiert und initiativ sind.» Er habe während des Forums sehr viele Anfragen erhalten. «Wir brauchen Leute mit Berufserfahrung – die haben aber die wenigsten.»

Auch Daniel Ott empfiehlt den Einsteigern, flexibel zu sein und sich zu öffnen, statt verbissen ein Praktikum nach dem anderen in der IZA zumachen. «Sie sollen zuerst etwas anderes machen und sich qualifizieren.» Die Fachrichtung spiele dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Alternative zum Berufsweg ist eine Weiterbildung wie etwa das zweijährige Nachdiplomstudium für Entwicklungsländer (Nadel) an der ETH Zürich.

Jörg Frieden, Vizedirektor der Deza, ordnete den Job in der IZA in seinem Referat in den globalen Kontext ein. Gerade die Veränderung der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) verändere auch das Berufsprofil, sagte Frieden: Neue, gemeinsame Visionen der Geberländer wie die Pariser Erklärung, der wachsende Einfluss neuer Geber wie China oder private Stiftungen gäben der EZA eine neue Stossrichtung. Heute könnten die industriellen Länder nicht mehr diktieren, in welche Richtung es gehe – es seien viel mehr Menschen eingebunden und die Ziele seien komplexer geworden. «Wir brauchen heute globale Lösungen.»

Gerade der Wissensaustausch werde in der IZA deshalb immer bedeutender, sagt auch Frieden: «In Zukunft wird das technische Profil immer wichtiger: Wir brauchen in der Deza keine Generalisten mehr, sondern immer mehr Spezialisten.» Gefragt sind heute etwa Klimaspezialisten. 

Grosse internationale Konkurrenz

Umden Traumjob in der IZA zu finden, braucht es enorm viele Qualifikationen und ein Quäntchen Glück. Denn die Konkurrenz ist international, und gute Leute gibt es viele. Doreen Cross von der Uno-Organisation UNFPA erhielt im vergangenen Jahr für 90 Stellen 15 000 Bewerbungen. «Es ist sehr schwierig einzusteigen»,sagt sie. Trotzdem  werben die Internationalen Organisationen in der Schweiz um mögliche Kandidaten: «Wir wollen, dass sich die Diversität unseres Arbeitsfeldes in unseren Mitarbeitern widerspiegelt», sagt Daniel Tytiun, Direktor der African Develop Bank.

Ausserdem ist die Schweiz als Land mit französischsprachigen Kandidaten, die insbesondere in afrikanischen Ländern gefragt sind, für Internationale Organisationen interessant.

[@] INFORMATION und Beratung zur Arbeit in der IZA unter www.cinfo.ch.

Porträt 1: ​

«Man macht etwas Sinnvolles»

Der Soziologe Daniel Ott Fröhlicher (43) war für sieben Jahre in Bolivien tätig.

Sieben Jahre lang arbeitete Daniel Ott in Bolivien. Zuerst beriet er im Auftrag von Interteam Biobauern und eine indigene Organisation in strategischer Planung, Organisationsentwicklung und politischem Lobbying. Anschliessend koordinierte er das Programm des Deutschen Entwicklungsdienstes in Bolivien mit. «Ich begann mich schon während meines Soziologiestudiums fürs Thema zu interessieren», sagt Ott. Während eines Studienjahrs in Mexiko kam er mit der Entwicklungszusammenarbeit in Kontakt. «Ich konnte mir gut vorstellen, in Lateinamerika zu leben.» Nach dem Uni-Abschluss habe er sich schliesslich für den Berufsweg und gegen ein Nachdiplomstudium entschieden und einen Job im Erziehungsdepartement des Kantons Basel angenommen. «Ich habe mir dabei viele Kompetenzen angeeignet und auch kommunikative Fähigkeiten erworben»,sagtOtt. Nach fünf Jahren schliesslich suchten Ott und seine Partnerin den Einstieg in die IZA und knüpften am «forum cinfo» Kontakte. Bald darauf traten sie dieReise nachBolivien an.

«InBolivien kamen zweiKinder»

«Die Arbeit in Bolivien war sehr spannend», sagt Ott rückblickend. Während andere aus familiären Gründen frühzeitig in die Schweiz zurückreisten oder Beziehungen im Ausland zerbrachen, war Bolivien für Ott auch in familiärer Hinsicht eine Chance: «In Bolivien kamen zwei Kinder – in der Schweiz hätten wir wohl keine Kinder gewollt», sagt Ott. In einer anderen Kultur beginne man plötzlich, seinen Lebensstil zu hinterfragen. Als der Vertrag mit Interteam auslief, suchte sich Ott ein neues Projekt.

«Wir kamen gerne zurück»

Letzten November sind Ott und seine Frau in die Schweiz zurückgekehrt, in erster Linie aus «rationellenÜberlegungen» hinsichtlich seiner und ihrer Karriere. «Wir kamen gerne heim», sagt Ott. Man schätze seine Wurzeln nie so sehr,wie wenn man längere Zeit im Ausland gelebt habe. Als «Glücksfall» bezeichnet er, dass er noch in Bolivien einen Job in der Schweiz fand. Als Programmverantwortlicher von Swissaid ist er heute von der Schweiz aus für das Koordinationsbüro in Nicaragua zuständig, wo acht lokale Angestellte die Swissaid-Projekte in Nicaragua koordinieren. Ott ist beispielsweise für die qualitative Prüfung der Projekte zuständig und direkter Ansprechpartner für die Mitarbeiter in Nicaragua. Ausserdem kümmert er sich um die Öffentlichkeitsarbeit und das Lobbying sowie die Akquisition neuer Geldgeber in der Schweiz. Ins Ausland reist er noch rund zweimal im Jahr.

Job als Herausforderung

«Die Arbeit an der Basis fehlt mir manchmal», sagt Ott. Hier in der Schweiz müsse er stets mit «bürokratischer Distanz» arbeiten. Auch die Spontaneität der Lateinamerikaner, die Unverplantheit, Flexibilität und Frustrationstoleranz vermisse er. «Hier in der Schweiz läuft alles reibungslos.» Er freue sich jedoch, wieder in der IZA eine Stelle gefunden zu haben. «Ich hätte mir aber auch eine Arbeit im sozialen Bereich vorstellen können.» Seine Motivation sei die Solidarität und die Verantwortung, die man übernehmenkönne: «Manmacht etwas Sinnvolles.»

Die Arbeit sei eineHerausforderung, in fachlicher und in persönlicher Hinsicht. Es seien viele Qualifikationen gefragt: So etwa die interkulturelle Sensibilisierung, Kompetenzen in der Kommunikation, im Qualitäts- und Wissensmanagement und im Sozialen. «Ich habe gelernt, ein Generalist zu sein.» (mry)

Porträt 2: ​

«Geld spielt keine Rolle»

Eli Weiss (29) beginnt ein Nachwuchsprogrammbei der Weltbank inWashington

Er ist jung, er weiss, was er will, und er hat die erste grosse Hürde seinerKarriere bereits geschafft: Der Berner Eli Weiss hat das erreicht, wovon viele junge Hochschulabsolventen träumen. In einem Monat tritt er seine neue Stelle bei der Weltbank in Washington an. Als «Junior Professional Officer» wird er während mindestens zweier Jahre für Projekte in Mexiko und Kolumbien zuständig sein. Finanziert wird das zweijährige Programm, das jungen Leuten ermöglicht, bei einer grossen Organisation der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) Erfahrungen zu sammeln, vom Seco. Von diesem wurde Weiss auch ausgewählt – dieChancen, auf einem anderen Weg in eine so grosse internationale Organisation zu gelangen, wären für junge Leute sonst äusserst gering.

«Arbeitwird akademischer»

«Bei derWeltbank werde ich für die Projekte in Mexiko und Kolumbien arbeiten», sagt Weiss. Er werde für diese beiden Länder neue Strategiepläne erstellen und makroökonomische Studien machen. Das sei nun, nach einigen Jahren «im Feld», ein neuer Schritt: weg von der Basis, hin zur Büroarbeit, zuden Statistiken und zum theoretischen Arbeiten. «Meine Arbeit wird akademischer und ich werde weniger Einfluss haben und nicht selber vor Ort anpacken können. Das wird eine grosse Veränderung sein, aber sie bringt mich weiter.»

Als «Zivi» nach Peru

Seine Laufbahn in der IZA begann Weiss bereits während seines Wirtschaftsstudiums in Lausanne und Mexiko. Ein Professor bot ihm an, in einem Projekt der Deza und Intercooperation in Nicaragua im Bereich Mikrofinanzen mitzuwirken und seine Masterarbeit darüber zu verfassen. «Als ich zurück in die Schweiz kam, lag ein WK-Aufgebot auf meinemTisch», sagt Weiss vor den zahlreichen Zuhörern am Forum. Er habe daraufhin zum Zivildienst gewechselt und über Beziehungen einenneuen Einsatz in der IZA gesucht.

Bis er fündig wurde, arbeitete er als Trainee beim Bundesamt für Statistik. In acht Monaten Zivildienst und einem weiteren Jahr in Peru half er, ein am Schluss selbsttragendes Projekt aufzubauen, das Bauern und Kleinunternehmer beim Export unterstützt. Die Arbeit in der IZA sei spannend und faszinierend, sagt Weiss. Er interessiere sich sehr für die wirtschaftliche Entwicklung und arbeite gern mit unterschiedlichen Leuten zusammen, vom Kleinbauern über den Politiker bis hin zum Grossunternehmer. «Und man weiss, weshalb man arbeitet. Es macht alles einen Sinn.» Diese Genugtuung werde beim theoretischen Arbeiten vielleicht weniger spürbar sein.

«Manmuss flexibel sein»

Und die Zukunft? «Langfristig sehe ich mich eher hier in der Schweiz», sagt Weiss. Und fügt sogleich an: «Aber in diesem Business muss man flexibel sein.» So sei  beispielsweise kürzlich sein zukünftiger Arbeitsort von Bogota nach Washington verlegt worden. Wer in der IZA arbeiten wolle, müsse joborientiert, nicht landorientiert sein. «Man muss sich nach der Uni fragen: In welche Richtung will ich? Und dann soll man jeden Job in dieser Richtung nehmen – Geld spielt keine Rolle», rät er Newcomern. Auch sei es wichtig, Beziehungen und Freunde bei der Stellensuche in Anspruch zu nehmen und nicht immer nur die «BigPlayers» im Auge zu haben, sondern auch kleine Projekte, die auf Mandatsbasis der Grossen funktionierten. (mry)

Langes Warten auf Torres
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Die Euro ist vorbei – und schon stehen die Fussballhelden wieder  auf Schweizer Rasen: In Interlaken kicken sich seit gestern die  Stars des FC Liverpool fit. Nur die Europameister fehlen.

Der Rasen vor dem Bildungszentrum Interlaken (BZI) im Bödeli liegt da wie immer – er ist grün und durchnässt vom kalten Regen. Nichts deutet darauf hin, dass hier in weniger als einer Stunde an diesem Sonntagabend Weltstars auftauchen werden: Der FC Liverpool wird sich hier während neun Tagen fit kicken. Und das Beste daran: Zum Team gehören auch Torres und drei weitere Europameister. Die Ruhe täuscht denn auch: Hinter dem Absperrgitter gehen einige Herren hektisch auf und ab. Die ersten Zuschauer sichern sich auf der Tribüne einen Platz. Die Mähmaschine dreht ihre Runden.

«Das Gras sei noch zu lang, hat man mir gesagt», sagt Max Lauener. Der grüne Teppich wird deshalb noch einmal frisch frisiert: 23 Millimeter lang muss er sein. «Und zwar haargenau.» Der Hauswart der Sportanlagen ist für die perfekten Trainingsbedingungen verantwortlich. Es gehe hektisch zu und her, so kurz vor der Ankunft der Weltstars. Aber es werde «ein Highlight», sie hautnah zu erleben. Lauener ist einer der wenigen, die Zugang zu den Spielern haben. Sie wollten absolute Ruhe, sagt er. Bereits vorigen Sommer waren die «Reds» in Interlaken im «Lager». Im Luxushotel Victoria-Jungfrau haben sie zwei Etagen bezogen – auch hier leben die laut Lauener «wortkargen» Spieler abgeschottet von der Öffentlichkeit.

Zwei Balljungs melden sich an. Nervös und mit glänzenden Augen. Sie gehören zu den sechs Glücklichen, die den von den Stars aus dem Feld gekickten Bällen nachrennen dürfen. «Ich bin ganz aufgeregt», sagt der 13-jährige Elia von Allmen. Gerrard, Torres, Degen – alle werde er hautnah erleben. In der Schule seien sie ganz neidisch auf ihn. «Vielleicht werde ich sogar mit ihnen reden können!» Vielleicht. Presseinterviews jedenfalls geben die Hünen keine. Fotografen sind nur im Zuschauerraum erlaubt. Nur so habe man dafür sorgen können, dass die englische Presse zu Hause bleibe, sagt ein Betreuer, der nicht genannt werden möchte.

Der Regen wird stärker, die Spieler tauchen plötzlich auf. Helfer verteilen auf dem Rasen rote und weisse Hütchen. Ein Murmeln geht durch die rund 200 Zuschauer, die unter ihren Regenschirmen auf der spärlich besetzten Tribüne stehen. Manch einer nimmt den Feldstecher und beobachtet die Spieler, die in schwarzen Trainingsanzügen im Trockenen stehen und in den Regen starren. «Wo ist Torres?» Das ist die Frage des Abends. Von ihm und den drei weiteren Europameistern fehlt jede Spur. Doch die Spieler sind weit weg. «Wir werden Torres schon noch erblicken», sagt ein Vater zu seinem ungeduldigen Sohn.

Die Kicker starten nun, joggen ruhig im strömenden Regen um den Fussballplatz. Einige lächeln, als sie an den Zuschauern vorbeilaufen. Während die Öffentlichkeit in England ganz von den Trainings ausgeschlossen ist, dürfen die Zuschauer hier in Interlaken immerhin in einer markierten Zone am Rand zuschauen. Und wer Glück hat, ergattert sogar ein Autogramm, wenn die 28 Spieler mit ihren 12 Trainern und Betreuern mit dem Velo im Trainingszentrum ankommen. Interlaken ist stolz auf die prominenten Kicker: Nachdem es nicht gelungen sei, eine Euro-Mannschaft nach Interlaken zu locken, sei das Trainingslager des FC Liverpool «mehr als nur ein Trostpflaster», schrieb die «Jungfrau Zeitung» euphorisch.

Die Fussballstars verteilen sich auf dem Feld, spielen sich ein. Man hört Rufe, Trainer Rafa Benitez schreit der Mannschaft Anweisungen zu. Die Zuschauer harren wie erstarrt im Regen. «Da ist Degen! Der mit den weissen Socken!», ruft ein Mann mit Feldstecher. Immerhin. «Doch wo ist Torres?» Die Europameister sind nicht da. Sie seien in den Ferien, spricht sich herum. Die Enttäuschung ist gross im Bödeli. Und der Regen wird immer stärker.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 14. Juli 2008 im "Bund".

Die innere Uhr gibt den Takt an
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Jeder Mensch hat seine innere Uhr. Stimmt diese wie bei der Nachtarbeit nicht mit der «äusseren» Uhr überein, wird er krank. Noch hat die Wissenschaft keine Lösung gefunden: In Sachen Schichtarbeit steckt die Forschung in den Kinderschuhen, wie eine Tagung zeigt.

Es ist mitten in der Nacht, doch die Lichter in der Fabrik brennen. Die riesigen Maschinen laufen Tag und Nacht, sie abzustellen wäre ökonomisch nicht vertretbar. Die Fabrikangestellten müssen auch in der Nacht an die Arbeit. Auch der Herzkranke im Spital muss während 24 Stunden betreut werden. Flugzeuge landen um Mitternacht, Züge werden nachts gewartet, Zeitungen nachts gedruckt. Über 500000 Menschen in der Schweiz arbeiten, während die anderen in ihren Betten liegen: Sie arbeiten in Schichten und lösen sich ab, damit der Betrieb während 24 Stunden läuft.

Neben sozialen hat dieser unregelmässige Rhythmus auch ökonomische und gesundheitliche Folgen: In der Nacht passieren viel mehr Arbeitsunfälle und Fehler. Viele Betroffene leiden unter Schlafstörungen und Verdauungsproblemen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie erkranken – etwa an Krebs oder Depressionen – ist um ein Vielfaches grösser als bei Angestellten mit normalen Arbeitszeiten. Der Grund dafür ist das Tageslicht, das ihnen in der Nacht fehlt und sie tagsüber nicht schlafen lässt. Doch weshalb ist Licht für die Gesundheit so wichtig? Welche Rolle spielt es am Arbeitsplatz? Die Tagung «Licht und Nachtarbeit» in Winterthur, organisiert durch das Nationale Forum Nachtarbeit, ging diesen Fragen nach.

Innere Uhr gibt Tagesablauf vor

«Alles hat seine zeitliche Ordnung», sagte Professorin Anna Wirz-Justice, die seit Jahren am Zentrum für Chronobiologie in Basel über die biologischen Rhythmen forscht: «Jedes einzelne Lebewesen hat seine innere Uhr.» Auch der Schlaf-Wach-Zyklus ist synchronisiert: Es ist die innere Uhr, die den Menschen dirigiert und bestimmt, wann Zeit zum Schlafen, Aufwachen, Essen, Verdauen oder Entleeren ist. Mit der Ausschüttung des Hormons Melatonin sorgt sie dafür, dass man abends müde wird, ins Bett geht und einschläft. Und am Morgen gibt sie dem Körper mit Cortisol das Signal, aufzuwachen und wach zu bleiben. Und dies exakt im 24-Stunden-Rhythmus.

Die Sonne richtet die innere Uhr

So perfekt die innere Uhr ist, so tückisch ist sie für die moderne Gesellschaft. Denn sie richtet sich nicht nach Arbeitszeiten oder sozialem Umfeld, sondern in erster Linie nach der Sonne: Melatonin wird mit dem Verschwinden des Tageslichts ausgeschüttet, Cortisol mit dem Hellerwerden. Das führt dazu, dass in den meisten Schlafzimmern der Wecker lange vor der inneren Uhr schrillt. Bei Menschen, die in der Nacht arbeiten, ist die Differenz riesig, was für sie verheerende Folgen hat: Wegen der verkehrten Arbeitszeiten sind sie einem dauernden Jetlag ausgesetzt – ähnlich wie nach einem Flug von Zürich nach New York: «Sie arbeiten, wenn das Hormon Melatonin den Körper auf Schlaf trimmt. Und sie gehen ins Bett, wenn der hohe Cortisolspiegel dafür sorgt, dass sie wach bleiben», sagt Wirz-Justice. Doch während sich der Körper nach einem langen Flug schon nach wenigen Tagen der neuen Aussenzeit anpasse, bleibe die Uhr des Nachtarbeiters verstellt, da kein Licht vorhanden sei, nach dem sich der Körper richten könne: «Der Zeitpunkt der Lichtexposition ist massgebend.»

Die Bedeutung des Lichts als Zeitgeber des Menschen erkläre, weshalb in der Nacht besonders viele Arbeitsunfälle und Fehler passierten. Und auch, weshalb viele Schichtarbeiter nach der Arbeit trotz hohem Schlafdruck unruhig und lediglich vier bis fünf Stunden schlafen könnten. Die Folge davon ist ein chronischer Schlafmangel, da der Körper sich weder nachts noch tagsüber regenerieren kann.

Licht gegen die Müdigkeit

Zwar kann die Sonne am Arbeitsplatz nachgeahmt werden: Intensives Licht in den Arbeitsräumen und spezielle Lichtbehandlungen während der Arbeitspausen werden bereits heute gegen die Müdigkeit der Nachtarbeiter eingesetzt, wie an der Tagung mehrere Fachleute ausführten. Auch Verdunkelungsbrillen für den «Feierabend am Morgen» gibt es, damit der Körper am Morgen auf Schlaf umstellt. Die moderne Lichtgestaltung richtet sich auch mehr und mehr nach den Erkenntnissen der Chronobiologie: Dank Lampen, die das Licht je nach Tageszeit verändern, richtet sich die innere Uhr nach dem künstlichen Licht, das die Nacht für den Körper zum Tag macht, und verschiebt sich nach und nach. Damit könnten Fehler und Unfälle reduziert werden, sagt Wirz-Justice. Das sei gut fürs Unternehmen. Für den Arbeitnehmer allerdings sei auch diese Lösung nicht befriedigend, denn «schon beim nächsten Schichtwechsel kommt er in den nächsten Jetlag».

Schichtarbeit für Nachtmenschen

Die Chronobiologie sieht die Lösung denn auch eher in individuelleren Arbeitszeitmodellen. Denn wie die Forschung der vergangenen Jahre gezeigt hat, ist es angeboren, ob ein Mensch Nachtarbeit erträgt oder nicht: Es gibt frühe und späte «Chronotypen». Auf der einen Seite die Lerchen, die Frühaufsteher, und auf der anderen die Eulen, die Nachtmenschen, die spät einschlafen und spät aufwachen, falls kein Wecker klingelt. Zwar ist die innere Uhr auch durch Alter und Geschlecht bedingt – Kinder sind eher frühe Typen, Teenager sind Eulen, alte Menschen Lerchen und Männer sind eher Eulen als Frauen. Auch ob jemand ein Langschläfer ist oder nicht, ist angeboren und kann wie die innere Uhr kaum von aussen beeinflusst werden. «Chronotyp und Schichtarbeit müssen deshalb dringend synchronisiert werden», fordert Wirz-Justice. Frühe Chronotypen könnten unmöglich Nachtschicht machen. Und späte sollten nicht für die Frühschicht eingeteilt werden, da sie sonst nicht zu genügend Schlaf kommen.

Doch wie findet ein Arbeitgeber heraus, welche Schicht zu welchem Mitarbeiter passt? Die Wissenschaft arbeite an Modellen, doch noch habe man zu wenige Ergebnisse, sagte Till Roenneberg, Professor der Chronobiologie aus München, an der Tagung. Bisherige Studien seien unbrauchbar, da sie die innere Uhr als Faktor nicht beachteten. «Es braucht deshalb noch viel Feldarbeit.» Klar sei jedoch: Die Spannweite der angeborenen Tagesrhythmen sei riesig, die Individualität gross. Grundsätzlich gebe es jedoch mehr Nachtmenschen als Frühaufsteher. Doch nicht nur die Gene, auch das Licht bestimmt, wann wir aufstehen: Im Osten der gleichen Zeitzone, wo die Sonne früher aufgeht, stehen Menschen früher auf als im Westen. Und in der Stadt stehen sie später auf als auf dem Land, wo sich die Menschen häufiger draussen aufhalten und der Sonnenaufgang eher sichtbar ist.

Nachtarbeit schadet Gesundheit

Auch wenn die Wissenschaft erst wenig über die Folgen von Nacht- und Schichtarbeit auf den Menschen aussagen kann – eines wisse man ohne jeden Zweifel, sagt Roenneberg: «Schichtarbeit ist gesundheitsschädigend.» Je stärker die verschiedenen Rhythmen auseinanderklafften, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden. Roenneberg legte den anwesenden Arbeitgebern deshalb nahe, sich für mehr Grundlagenforschung und bessere Arbeitsbedingungen zu engagieren. Denn sonst könne es teuer werden: «Rauchen ist freiwillig – trotzdem gingen viele Raucher mit Erfolg gegen Tabakfirmen vor Gericht. Was passiert, wenn plötzlich eine Welle von Schichtarbeitern vor Gericht geht?» Denn: Schichtarbeiter seien nicht selber schuld, wenn sie erkranken.

Interview: ​

«Ich plädiere für spätere Arbeitszeiten»

Nicht nur Schichtarbeiter sind vom «sozialen Jetlag» betroffen – auch viele Nachteulen können in unserer Gesellschaft nicht nach ihrer inneren Uhr leben. Anna Wirz-Justice fordert deshalb spätere Schul- und individuell flexible Arbeitszeiten.

«Bund»: Unregelmässige Arbeitszeiten betreffen nicht nur Schichtarbeiter: Manager jetten um die Welt, Studenten lernen in der Nacht, in vielen Firmen sind Überstunden an der Tagesordnung. Müssen wir mit weniger Schlaf auskommen?

Anna Wirz-Justice: Ja. Arbeit, Freizeit, Sport, Familie – es wird immer mehr, was in 24 Stunden Platz haben muss, gespart wird nur beim Schlafen. Wir leben in einer 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft, dies lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Schichtarbeit und Überstunden sind der Preis, den wir dafür bezahlen. Es trifft aber nicht alle gleich: Frühaufstehern geht es in unserer Gesellschaft besser als Eulen, die spät ins Bett gehen und trotzdem früh raus müssen. Letztere leben wie Schichtarbeiter in einem ständigen Jetlag. Die Folge ist ein konstanter Schlafmangel – um diesen Schlaf nachzuholen, braucht es rund drei Wochen Ferien.

Reden Sie aus Erfahrung?

Ja, ich bin eine extreme Eule. Ich habe lange Zeit gelitten, als ich jeden Morgen früh im Büro stehen musste. Heute bin ich freie Mitarbeiterin und kann wählen, wann ich aufstehen will. Normalerweise zwischen neun und zehn Uhr, ins Bett gehe ich zwischen ein und zwei Uhr, so bin ich ausgeschlafen.

Weshalb ist die innere Uhr so wichtig?

Weil unsere gesamte Physiologie und unser Verhalten darauf abgestimmt ist. Sie ist eine fantastische Zeitorganisation und sagt voraus, was wir als nächstes tun. Sie ist auch eine Art Energieeffizienz: Sie sorgt dafür, dass wir zur richtigen Zeit die richtige Funktion ausüben.

Es gibt unter uns mehr Eulen als Lerchen – die Schweizer gelten jedoch als Frühaufsteher.

Ja, wir leben in einer Lerchengesellschaft, obwohl viel mehr Menschen Eulen sind, als man denkt. Es gilt auch nach wie vor als faul, wer morgens länger schläft und später ins Büro kommt. Dabei sieht niemand, was diese Leute abends leisten. Für Lerchen dagegen ist Nachtarbeit schwierig.

Gibt es keine Möglichkeit, sich an die Arbeitszeiten anzupassen?

Man kann sich anpassen, aber am Wochenende müssen die Schlafdefizite kompensiert werden. Dies kann also nur eine Übergangslösung sein, denn die innere Uhr passt sich nicht an: Sie ist angeboren und wird zusätzlich von Geschlecht und Alter beeinflusst, sie lässt sich also nicht einfach so verstellen. Einzig durch Licht lässt sich die innere Uhr verschieben.

Müssten also die Arbeitszeiten an die Menschen angepasst werden?

Ja. Es braucht dringend individuellere Arbeitszeiten, die es ermöglichen, den Tagesablauf des Einzelnen besser mit seiner inneren Uhr abzustimmen. Gerade für Jugendliche, die typischen Eulen in unserer Gesellschaft, müssten Arbeits- und Schulzeiten angepasst werden. Wahrscheinlich könnten viele Jugendprobleme gelöst werden, wenn die jugendlichen jede Nacht eine Stunde länger schlafen könnten. Beispielsweise beim Rauchen wurde ein Zusammenhang festgestellt: Je höher der soziale Jetlag, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand raucht. Schlafmangel ist also ein Risikofaktor und diesem sind fast alle Jugendlichen ausgesetzt. Dass sie früher ins Bett gehen, kann man hingegen nicht von ihnen erwarten: Ihre innere Uhr lässt sie nicht einschlafen. Wenn sie am Wochenende bis nachmittags im Bett liegen, hat dies also nichts mit Faulheit zu tun. Sie müssen den verpassten Schlaf nachholen.

Welche Folgen kann Schlafmangel noch haben?

Konzentration, Motivation und Leistungsfähigkeit könnten mit mehr Schlaf gefördert werden. Denn wer nach dem eigenen Rhythmus schläft, hat einen besseren Schlaf. Dies ist auch für den Lernprozess wichtig, denn Schlaf dient der Gedächtnisverarbeitung: Wer zu wenig oder schlecht schläft, kann weniger aufnehmen. Ein Grund mehr für die Einführung späterer Schul- und Arbeitszeiten.

Sie sind also generell für spätere Arbeitszeiten?

Eine Spätschicht für alle wäre sicher besser als eine Frühschicht – jedenfalls aus gesundheitlicher Sicht. Sozial wäre sie jedoch nicht verträglich. Das ist unser Problem: Was gut ist für die Gesundheit, ist nicht unbedingt gut fürs soziale Umfeld. Ich plädiere trotzdem für spätere Arbeitszeiten – wir sind keine Bauern mehr, es gibt keinen Grund, den Tag so früh zu beginnen.

Wird dem Schlaf in unserer Gesellschaft zu wenig Bedeutung beigemessen?

Ja, Schlaf ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Die Bedeutung des Schlafs – und damit der inneren Uhr – kann jedoch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Es würde der Gesellschaft viel mehr bringen, wenn jeder nach seinem eigenen Rhythmus leben würde, als wenn jeder zur gleichen Zeit am Arbeitsplatz ist. Denn chronischer Schlafmangel hat auch wirtschaftliche Folgen: Es passieren mehr Fehler und Unfälle und die Gesundheitskosten steigen. Individuelle Schichten würden auch verhindern, dass Leute wegen Geld oder eines guten Jobs gegen ihre Uhr arbeiten. Noch kann die Wissenschaft keine Lösungen bieten. Je mehr wir wissen, wie wichtig Schlaf und die innere Uhr sind, müssen wir aber bereit sein, Lösungen zu finden.

ZUR PERSON

Anna Wirz-Justice forscht am Zentrum für Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel über die biologischen Rhythmen. Sie beschäftigt sich mit Licht und Schichtarbeit und der Schlaf-Wach-Regulation des Menschen.

​Text und Interview: Manuela Ryter

Diese zwei Texte erschienen am 18. Juni 2008 im "Bund".​

«Jeder kann seinen Traum leben»

Seit 2000 ist Taekwondo offizielle olympische Sportart. Mit Manuela Bezzola hat sich für «Beijing 2008» nun erstmals eine Schweizerin für die Olympischen Spiele qualifiziert. Mit dem Glauben, dass alle Ziele erreichbar sind, hat die 18-Jährige ihren Traum erfüllt. Ausgeträumt hat sie aber noch lange nicht: «In Peking ist alles möglich.»

Istanbul, 26. Januar 2008. Nun war sie da: die letzte Chance. Der Traum von Olympia, den Manuela Bezzola seit Jahren geträumt hatte, war plötzlich in greifbarer Nähe. Bereits als 10-Jährige hatte Bezzola die Olympischen Spiele in Sydney im Fernsehen mitverfolgt. Zum ersten Mal war Taekwondo als offizielle olympische Sportart zugelassen. «So weit möchte ich auch kommen», hatte sich die junge Taekwondo-Kämpferin damals gedacht. Und vor vier Jahren, als sie Federer, Fischer und Co. bei der Eröffnungsfeier in Athen einlaufen sah, war für sie klar: «In ‹Beijing 2008› will ich dabei sein. Unbedingt.»

«Es war mein Tag und ich wusste es»

Und nun war ihre letzte Chance da. Die erste, am weltweiten Qualifikationsturnier in Manchester, hatte Bezzola im Herbst vergeben. An der kontinentalen Ausscheidung in Istanbul waren noch einmal drei Tickets pro Gewichtsklasse zu holen. Wer einen Match verliert, ist draussen. Manuela Bezzola stellte sich der ersten Gegnerin und gewann. Dann der zweiten. Der dritten. Wenn sie kämpft, fliegen ihre Beine blitzschnell durch die Luft, sie greift an, weicht aus, alles geht so rasant schnell, dass die einzelnen Bewegungen kaum auszumachen sind. «Es hat alles gepasst. Es war mein Tag und ich wusste es.» Schon als sie am Morgen aufgewacht sei, habe sie sich gesagt: «Heute fühle ich mich super, heute bin ich besser als die anderen, heute ist meine Chance.»

Und dann stand sie im entscheidenden Match – und gewann. Sie habe keine Erinnerung an diesen Match, sie habe beim Kämpfen jedes Zeitgefühl verloren, sagt glauben. Ich war überglücklich.» Jahrelang habe sie dafür trainiert, in den letzten Jahren täglich bis zu fünf Stunden neben ihrer kaufmännischen Sportlehre. Geschlafen habe sie in jener Nacht keine Minute.

Mit Selbstbewusstsein zum Erfolg

Heute blickt Manuela Bezzola mit Gelassenheit auf diesen Wintertag in Istanbul zurück. Sie sitzt auf dem Sofa in ihrem Elternhaus in Studen bei Biel, in Jeans und schwarzem Pulli, ihre gelockten Haare wie eine Ballerina streng nach hinten gekämmt. Ihre Qualifikation schreibt sie in erster Linie ihrem positiven und zielgerichteten Denken zu, denn «ich bin nicht besser als die anderen». Auf diesem Niveau seien die Leistungsunterschiede minimal, sagt die Junioreneuropameisterin 2005 und WM-Fünfte 2007, die erst seit einem Jahr in der Elite startet. Entscheidend seien Kleinigkeiten – und die mentale Stärke.

«Wenn man etwas wirklich will und alles dafür gibt, erhält man auch einmal 100 Prozent zurück. Jeder kann seinen Traum leben.» Sie sei von Natur aus ehrgeizig, dickköpfig und hartnäckig. Und das Selbstvertrauen werde durch Bezzola rückblickend. «Plötzlich machte es Piep und es war fertig.» Eine riesige Last sei von ihr gefall en: «Mein Traum war in Erfüllung gegangen. Ich konnte es gar nicht ihren Sport enorm gestärkt, sagt Bezzola. Das Vertrauen in die eigene körperliche und geistige Kraft sei im Taekwondo zentral, dies habe ihr René Bundeli, ihr Taekwondo-Lehrer und «Übervater», beigebracht. Wenn sie ihre Kraft und ihren Willen auf ein Ziel fokussiere, sei sie auch fähig, mit der Hand ein Holzbrett oder einen Ziegelstein zu zerschlagen. An ein mögliches Versagen denke sie gar nicht erst. Und falls sie doch mal eine Niederlage einstecke, dann motiviere sie das, «noch härter an mir zu arbeiten».

Kampf für mehr Anerkennung

Nun geniesst Bezzola den Rummel, den sie mit ihrer Olympia-Qualifikation ausgelöst hat. Freunde haben ihr gratuliert, alte Bekannte schickten Blumen, ehemalige Lehrer Karten, die Medien, «die sich vorher nie für unseren Sport interessierten», standen plötzlich vor der Tür. Es freue sie enorm, dass Taekwondo dank ihrer Qualifikation nun auch in der Schweiz etwas mehr Anerkennung erhalte, sagt Bezzola. In Spanien, Italien, Amerika – und natürlich Asien – sei Taekwondo seit langem sehr bekannt und beliebt. In der Schweiz aber kenne diese traditionelle koreanische Kampfsportart fast niemand. Es werde Zeit, dass sich dies ändere.

Dass die Olympischen Spiele in Asien stattfinden, wo ihr Sport herkommt, sei umso spannender, «auch wenn die Spannungen in China die Vorfreude etwas trüben». Sie glaube aber daran, dass der Sport die Welt vereine: «Die Olympischen Spiele sind wohl das einzige Ereignis, das so viele Kulturen zusammenbringt.» Spitzensport sei in dem Sinn eine gute Lebensschule: Man lerne nicht nur «zu beissen», sondern auch den Umgang mit anderen Mentalitäten und Kulturen. Asien kennt Bezzola bereits bestens: Sie war schon viele Male in Korea, Vietnam und China und hat Freundschaften mit asiatischen Sportlerinnen geschlossen. «Wer sich in Asien in Taekwondo für die Olympischen Spiele qualifiziert, ist dort ein Superstar, ähnlich wie hier Roger Federer.»

Peking und das Olympische Dorf, wo im vergangenen Jahr die Taekwondo-WM stattfand, seien unglaublich imposant, sagt die18-Jährige, «auch wenn damals noch alles eine Baustelle war». Die Chinesen hätten gar die Autobahnen gesperrt, um die Busse mit den Sportlern ins Olympische Dorf zu eskortieren.

An Manuela Bezzolas Zimmertür hängt eine selbstgemalte Zeichnung mit den olympischen Ringen und dem Schriftzug «Beijing 2008». Jahrelang habe sie jede Minute an Peking gedacht, daran, dass sie es schaffen könnte. Nun werde sie in ein paar Monaten selbst neben ihren Idolen an der Eröffnungsfeier einlaufen. «Plötzlich bin ich eine von ihnen.» Das sei wirklich einmalig. Sie werde sich jedoch neben all den Sportgrössen «klein vorkommen». Doch sie wolle ihren Traum nun weiterträumen: Sie gehe nicht an die Olympischen Spiele, um dabei zu sein, sagt sie in ihrer unerschrockenen und doch bescheidenen Art: «In Peking ist alles möglich.» Auch die beste Taekwondo- Kämpferin sei schlagbar. Auch Gold sei möglich. «Weshalb sollte mein Traum nicht weitergehen?»

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 17. April 2008 im swiss sport 2/08, Magazin von Swiss Olympic.​

«Ich habe mein Glück gefunden»

Bruno Risi gibt noch einmal Gas: In «Beijing 2008» steht der weltbeste Sechstage-Radrennfahrer und Olympiazweite bereits zum fünften Mal an Olympia am Start. Das einzige, was dem 39-jährigen Urner noch fehlt, ist Olympiagold. Im Zentrum steht bei ihm heute jedoch seine Familie: Der «Uristier» ist ruhiger geworden – und damit auf der Rennbahn umso gefährlicher.

Bruno Risi, an den Sechstagerennen sind Sie der ewige Gewinner. Ihren Standardpartner wechselten sie in 17 Profijahren nur einmal. Sie zogen nie aus dem Kanton Uri weg, tragen seit jeher die gleiche Frisur. Sie sind kein Fan von Veränderungen.

Ich bin in einem konservativen Kanton aufgewachsen. Wir sind keine Hinterwäldler hier hinten, aber man ist etwas alteingesessen, da gibt es immer einen gewissen Aspekt an konservativem Denken. Das hängt wohl mit der Erziehung zusammen. Oder mit den Bergen.

2006 trat ihr langjähriger Partner Kurt Betschart vom Rennradsport zurück. Seit 2003 fahren Sie – nicht weniger erfolgreich – mit Franco Marvulli. Bedeutete dieser Wechsel eine Zäsur in ihrem Leben?

Nein, es war eher ein fliessender Übergang. Wir sind nur durch Zufall zusammen gekommen, weil sich Marvullis Standardpartner verletzte und ich für die WM in die Bresche sprang. Wir wurden auf Anhieb Weltmeister. Wir haben von Anfang an bestens harmoniert, technisch und menschlich. Betschart hatte irgendwann keine Freude mehr am Rennsport. Wir waren wirklich ein erfolgreiches Team. Heute herrscht jedoch Funkstille. Das ist vielleicht gut so. Wir hatten so viel Zeit zusammen verbracht, wir waren gesättigt voneinander, wie ein altes Ehepaar. Ich musste ihn nur anschauen und wusste, wie er drauf ist. Auch Sie sind nun bereits seit 17 Jahren Profisportler.

Hatten Sie noch nie genug?

Es gab in meiner Karriere auch Momente, in denen ich alles hinschmeissen wollte. Dann kamen die Kinder und mit ihnen neue Herausforderungen und neue Motivation. Grundsätzlich habe ich aber ganz einfach Freude am Velofahren und an unserer schönen Welt. Ich habe Freude, mein Hobby leben zu können. Und an der Landschaft. Uri ist der schönste Kanton der Schweiz, in der Berglandschaft steckt Energie. Ich geniesse es immer noch, eine Strecke zu fahren, die ich schon hundert Mal gefahren bin. Die Landschaft ist meine Energiequelle. Deshalb kam es auch nie in Frage, von hier wegzuziehen, auch wenn es trainingsmässig viel bessere Gebiete gäbe.

Und die immergleichen Runden, die Sie während eines Sechstagerennens auf der Bahn drehen? Ist das nicht monoton?

Nein, da kommt nie Langeweile auf. Es läuft so viel auf der Bahn! Während eines Rennens nimmt man die Umgebung nicht wahr, da spielt es keine Rolle, ob man auf der Strasse fährt oder auf der Bahn. Am Sechstagerennen sind wir auch Entertainer. Ein Strassenfahrer fährt von A nach B, um als erster anzukommen. Wir fahren auch fürs Publikum, das bezahlt hat. Wir spielen mit den Gegnern, das macht alles viel spannender, wir wollen dem Publikum etwas bieten. Etwa in Zürich, wenn Marvulli und ich eine Attacke machen, ist das ganze Publikum hinter uns, das bekommen wir natürlich mit: Wir bringen den Funken ins Publikum. Und wenn die Halle kocht, kommt der Funke zurück. Das ist Adrenalin, das macht süchtig! Die Beine sind schwer, das Rennen ist hart, aber wenn das Publikum auf den Bänken steht und ich weiss, es ist wegen uns, dann bekomme ich Hühnerhaut.

Also denken Sie noch nicht ans Aufhören?

Doch. Ich werde im September 40, auch ich muss einmal aufhören. Es ist schade, wenn man nach so einer Karriere erst aufhört, wenn der Erfolg nachlässt. Ich werde noch alles geben bis zwei Jahre nach den Olympischen Spielen in Peking. Dann höre ich auf mit den Rennen. Mit Velofahren selbstverständlich nicht.

Und danach?

Danach kommt wahrscheinlich ein riesiges Loch. [lacht] Nein, ich habe drei Kinder, eine wunderbare Familie. Ich freue mich sehr, wieder mehr Zeit für sie zu haben. Sie mussten sehr häufig auf mich verzichten. Und immer, wenn ich aus einem Trainingslager zurückkehre und sehe, wie sich die Kinder wieder verändert haben, wird mir bewusst, wie viel ich verpasse. Das stimmt mich melancholisch.

Wie werden Sie Ihren Ehrgeiz ausleben, wenn Sie nicht mehr Profirennfahrer sind?

Ich weiss noch nicht, was ich heute in zwei Jahren machen werde. Wahrscheinlich erst einmal eine Auszeit: Zeit haben, um den Kopf zu leeren und um über mich und meine Ziele nachzudenken. Auf jeden Fall wird es ein Neufanfang sein. Je näher der Zeitpunkt kommt, desto öfter denke ich darüber nach. Es ist eine Ungewissheit, aber auch eine Chance. Und eine Motivation, das Ansehen und den Erfolg, den ich jetzt im Sport habe, später in einem anderen Bereich wieder zu erreichen. Im Zentrum wird jedoch meine Familie stehen.

Hat Sie die Familie verändert?

Ja, enorm. Velofahren ist meine Leidenschaft, aber heute ist meine Familie mein Lebensmittelpunkt – Velofahren ist mein Beruf. Seit ich Kinder habe, gehe ich ganz anders an ein Rennen heran.

In welcher Hinsicht?

1996 in Atlanta und 2000 in Sydney wollte ich so viel, Velofahren war der Mittelpunkt in meinem Leben, ich setzte mich selbst enorm unter Druck. Seit ich eine Familie habe, ist der sportliche Erfolg relativ: Alles rückt ins richtige Verhältnis. Das gibt mir Halt, eine innere Ruhe. Und die brauche ich. Ich bin immer noch ehrgeizig, aber ich habe nicht mehr die innere Unruhe, die mich immer dann versagen liess, wenn ich es hätte bringen sollen. Heute gehe ich ans Rennen und gebe mein Bestes. Aber was zählt, ist die Familie. Wenn ich nach Hause komme, strahlen die Kinder – ob ich nun Weltmeister bin oder nicht. Für sie spielen Resultate keine Rolle.

Gehen Sie seither auch besser mit Niederlagen um?

Auf jeden Fall. Schulterklopfer gibt es viele, wenn man Erfolg hat. Wenn er ausbleibt, ist es die Familie, die für dich da ist. Ich war nicht immer erfolgreich, auch ich hatte sehr schwierige Erlebnisse. In Atlanta und Sydney habe ich kläglich versagt, obwohl ich der Favorit war. Da ist für mich die Welt zusammengebrochen, ich hatte sehr lange, um diese Niederlagen zu verarbeiten. Ich war so enttäuscht, dass ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht wurde. Aber als Sportler muss man lernen zu verlieren und frisch anzufangen. Der Sport ist deshalb eine enorm gute Lebensschule. Für mich war es jedoch sehr schwierig, dies zu lernen – ich bin wirklich sehr ehrgeizig. Ich konnte schon als Bub nie verlieren.

In «Beijing 2008» werden Sie wieder als Favorit starten – und bereits zum fünften Mal an Olympia. Die Medaille, die in Ihrem Palmarès noch fehlt, ist Olympiagold. Wird der Druck diesmal nicht besonders hoch sein?

Für mich als Sportler wäre Gold natürlich das «Pünktli auf dem i». An Olympia Erfolg zu haben, ist das Höchste, was du als Sportler erreichen kannst, das ist genial. Für meinen Ehrgeiz wäre Gold deshalb sehr wichtig. Aber: Mit meiner Familie habe ich mein Glück, mein «Inseli» gefunden. Ich muss mein Glück nicht mehr im Sport suchen.

Text: Manuela Ryter

Dieses Interview erschien am 17. April 2008 im swiss sport 02/08, Magazin von Swiss Olympic.

Heldinnen der Aids-Waisen
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Afrikas Grossmütter müssen für Kinder von aidskranken Eltern sorgen – Ältere Generation hat keine Altersvorsorge

In Afrika leben über 20 Millionen Menschen mit Aids. Das sind fast zwei Drittel aller HIV-positiven Menschen weltweit. Schweizer Entwicklungshilfen weisen auf die grosse Leistung und das Leid der älteren Generation hin.

Durch Aids stirbt in Afrika die Elterngeneration aus. Sie hinterlässt nicht nur Waisen, sondern auch verarmte alte Menschen. Grossmütter waren in Entwicklungsprojekten bisher jedoch kaum ein Thema. «Kinder sind für Entwicklungsprojekte viel interessanter. Doch es ist die Grosseltern-Generation, die zu den Hauptverlierern der Aidsepidemie gehört.» Das erklärt der Basler Kurt Madörin, der für das Hilfswerk «terre des hommes schweiz» gearbeitet hat und mit seiner Frau und vier Waisen in Tansania lebt. Der von ihm gegründete Verein Kwa Wazee und etwa 30 Entwicklungsorganisationen der Plattform «aidsfocus.ch» haben im Vorfeld des Welt-Aids-Tags mit einer Debatte in Bern die ältere Generation ins Blickfeld gerückt.

Betreuen statt betreut werden

«Grossmütter sind die wahren Heldinnen Afrikas: Sie sind es, die Aids-Kranke bis zu ihrem Tod pflegen und dann deren Kinder in Obhut nehmen», sagt der 69-jährige Madörin. Er selbst ist auf ihre Lage aufmerksam geworden, als er pensioniert wurde. «Ich fragte mich, wie alte Menschen in Afrika überleben.» Denn Renten gibt es keine, und die «natürliche Altersvorsorge», die Betreuung der Grosseltern durch ihre Familien, ist vielerorts aufgelöst: die Mütter sind gestorben und die Väter nach deren Tod weggegangen. «Viele Grossmütter werden ausgegrenzt und verarmen.» Sie seien vielen Belastungen ausgesetzt, berichtet Madörin: Sie müssen für Essen, Kleider und Schulhefte der Enkel aufkommen. Und diese wiederum müssen Arbeiten erledigen, die vorher ihre Eltern verrichteten und zudem die Grosseltern pflegen, wenn diese erkranken.

Madörin begann deshalb, einen Teil seiner Rente an Alte in Nshamba in der Provinz Kagera zu verteilen. Daraus entstand 2004 der Verein Kwa Wazee, der heute über 500 Grossmütter und deren Enkel mit minimalen Renten und einem Selbsthilfe-Programm unterstützt – mit dem Ziel, dereinst die tansanische Regierung für solche Leistungen zu gewinnen. «Bereits kleine Beträge haben erstaunliche Wirkung», betont Madörin. «Arme gehen höchst verantwortungsvoll mit Geld um.» Madörin ist überzeugt, dass monatliche Renten die Armut alter Leute und damit auch der Aidswaisen lindern.

Spenden für Renten

Erfahrungen der deutschen Entwicklungsagentur GTZ bestätigen dies: «Soziale Grundsicherung durch direkte Geldhilfe ist günstig und effizient», sagt Experte Matthias Rompel. Die GTZ hat in Studien festgestellt, dass Grosseltern und deren Enkel zu den Ärmsten der Armen gehören. Gerade diese Gruppen könnten angesichts ihrer sehr beschränkten Kräfte kaum Selbsthilfeprogramme starten und so Unterstützung erhalten. «Deshalb braucht es Geld», sagt Rompel. Es handle sich um finanzierbare Summen, die die einzelnen Länder für Renten aufbringen müssten. Es liege an Organisationen der Zivilgesellschaft, sich mit Lobbyarbeit dafür einzusetzen. «Das Thema Alter und Aids wurde tatsächlich vernachlässigt», sagt Joseph Kasper vom Schweizerischen Roten Kreuz. Infolge der «aidsfocus»-Debatte hat er Informationen gesammelt und an Partner in Westafrika weitergeleitet.

Seine Bitte, bei Aidsprojekten vermehrt mit älteren Leuten zu arbeiten, wurde gut aufgenommen. «Wir konnten einen Funken entzünden», sagt «aidsfocus»-Koordinatorin Helena Zweifel.

«Gesundheits- und Entwicklungsexperten haben erkannt, dass nicht nur die sexuell aktive Bevölkerung von Aids betroffen ist, sondern auch ihre Eltern und die ältere Generation.» Mehr Lobbyarbeit für die Alten weltweit ist gerade wegen der demographischen Veränderungen von grosser Bedeutung. Laut Prognosen wird die Anzahl über 60-Jähriger bis 2050 von 600 Millionen auf 2 Milliarden steigen. Den stärksten Anstieg wird es mit 7 auf 20 Prozent in Entwicklungsländern geben.

Text: Manuela Ryter (infosüd)

Dieser Artikel erschien am 1. Dezember 2007 im St. Galler Tagblatt.​

«Europa und Afrika vernetzen»
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Mit einem «Afro-europäischen Netzwerk» will Charles Senessie von Zollikofen aus gegen Aids in Afrika vorgehen

Die Kranken sind in Afrika, über ihre Krankheiten geforscht wird jedoch in Europa. Um Aids besser bekämpfen zu können, will der afrikanische Arzt Charles Senessie aus Zollikofen mit dem «Afro-europäischen Netzwerk für Medizin und Wissenschaft» den Wissensaustausch verbessern.

Etliche Linien durchziehen die Weltkarte an der Wand in Charles Senessies Büro in Zollikofen. Alle führen von Europa und Nordamerika nach Afrika – und zurück: Es sind die Verbindungen, die Senessie bereits aufgebaut hat. Sie sollen die Welt vernetzen und einen wissenschaftlichen Austausch zwischen dem Schwarzen Kontinent und dem Rest der Welt ermöglichen. «Eine verbesserte globale Zusammenarbeit ist dringend nötig, um gegen die Missstände im afrikanischen Gesundheitssystem vorzugehen», sagt der Arzt aus Sierra Leone, der seit 2004 in Zollikofen lebt. Vor einem Jahr hat er deshalb das «Afro-europäische Netzwerk für Medizin und Forschung» (AEMRN) mit Sitz in Zollikofen gegründet – und ist damit auf internationales Interesse gestossen: In den USA, in Kanada, Schweden und Holland sind seither weitere Büros entstanden, die mit jenen in Sierra Leone, Liberia, Kamerun, Kenia, Ghana und Kongo zusammenarbeiten. Und auch die Weltgesundheitsorganisation WHO liess sich von seinem Projekt überzeugen und machte ihn zum Partner ihres Programmes für den globalen Wissensaustausch.

Gegenseitig profitieren

Heute bestünden grosse Wissenslücken zwischen Europa und Afrika, sagt Senessie: «Die Kranken sind in Afrika, die Forschung aber findet im Westen statt.» In der Schweiz wisse jeder, was Aids sei und wie es übertragen werde – in Afrika, wo 60 Prozent der Aidskranken lebten, jedoch nur die wenigsten. Umgekehrt müssten viele Studien der Aids-Forschung hinterfragt werden, weil sie in Europa durchgeführt worden seien und nicht in Afrika, wo die Probleme am grössten seien: «Mit einer besseren Zusammenarbeit könnte die Wissenschaft von den Erfahrungen der afrikanischen Ärzte profitieren.»

Als Flüchtling Aids bekämpfen

Bewusst wurde Senessie dieses Ungleichgewicht, als er 2004 seiner aus Sierra Leone geflüchteten Familie in die Schweiz nachfolgte. In Afrika hatte er sich als Arzt insbesondere mit Aids beschäftigt. In der Schweiz knüpfte er dank der Unterstützung von Ueli Hänni, der in Zollikofen als Hausarzt viele Flüchtlinge behandelt, schnell Kontakte mit Aids-Spezialisten des Insel-Spitals. Später arbeitete er während eines Jahres am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern unter anderem in der Aids-Forschung und nahm an vielen internationalen Aids-Tagungen teil. Seit 2006 ist er freiwilliger Assistenzarzt in Hännis Praxis, der heute Berater des AEMRN ist. Als er eines Tages von einem verzweifelten Kollegen in Afrika um Hilfe gebeten wurde, habe er gesehen, dass es Möglichkeiten gebe, sein Wissen in Afrika weiterzugeben, sagt Senessie: «Ich wollte meiner Heimat, die ich verlassen hatte, etwas zurückgeben.» Dieses Bedürfnis teile er mit vielen Afrikanern in der Fremde. Dank dem Netzwerk könnten sie ihr Wissen nun weitergeben: Viele Mitglieder des Vereins sind emigrierte afrikanische Wissenschaftler – Ärzte, Soziologen, Psychologen und Ingenieure –, die sich, unterstützt von europäischen Ärzten, mit ihren Kollegen in Afrika austauschen. Dank der Zusammenarbeit könnten sich Ärzte in Afrika selbst helfen, sagt Senessie. Dies sei wichtig, denn «der beste Pilot ist derjenige, der die Strecke am besten kennt». Es mache keinen Sinn, wenn medizinische Hilfe in Afrika nur von Europäern geleistet werde.

Gemeinsame Arbeit in Afrika

Wissensaustausch mit Europa statt Abhängigkeit vom Westen ist es denn auch, was die Projekte von AEMRN, die auf ehrenamtlicher Arbeit basieren und durch private Spenden finanziert werden, anstreben. So hat das Netzwerk unter anderem in Liberia ein Krankenhaus aufgebaut, das nun als Ausbildungs- und Forschungszentrum der Universität dient. Und in «Workcamps», die AEMRN ab November durchführt, werden interdisziplinäre Gruppen afrikanischer und europäischer Wissenschaftler jeweils einen Monat in Kenia, Liberia und Kamerun in einer mobilen Praxis von Dorf zu Dorf ziehen und die Bevölkerung über Aids und andere Krankheiten informieren, sie behandeln und ihre Daten für die wissenschaftliche Auswertung aufnehmen. «So kann eine gemeinsame Erfahrungsbasis für die Zusammenarbeit geschaffen werden.»

[@] www.aemrnetwork.ch

​Text: Manuela Ryter (infosüd)

Dieser Artikel erschien am 11. Oktober 2007 im "Bund".​

«Tamilen sollen Dialog entfachen»
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In Belp wurde der geplante hinduistische Tempel verhindert – der Verein Aum Shakti kämpft jedoch weiter.

In der Belper Aemmenmatt kann der hinduistisch-tamilische Verein Aum Shakti seinen Tempel nicht bauen. Die Tamilen werden nun nach einem neuen Standort suchen – im Stillen, um erneuten Widerstand zu verhindern.

Mehr als ein Jahr lang hatte der Verein Aum Shakti an seinem hinduistischen Tempelprojekt, das in der Belper Aemmenmatt geplant war, gearbeitet. Doch dann kam in Belp Widerstand auf und der Belper Gemeinderat entschied sich kurzfristig, just jenes Stück Land zu kaufen, auf dem der Tempel geplant war – mit der Begründung, Belp müsse wieder über Landreserven verfügen, um «die bauliche Entwicklung besser steuern zu können», wie der Belper Gemeindepräsident Rudolf Neuenschwander (sp) sagte. Vor zwei Wochen bewilligte die Belper Bevölkerung stillschweigend den politisch brisanten Landkauf. Das Projekt der Tamilen war damit innert kürzester Zeit und ohne jeden politischen Widerstand vom Tisch (der «Bund» berichtete).

«Wir werden nicht locker lassen»

«Die Gemeinde wollte uns das Land wegkaufen», sagt Dinesh Zala, der das Bauprojekt leitet. Rechtliche Schritte habe man jedoch nicht gegen die Gemeinde eingeleitet, sondern gegen die Verkäuferin, die Mavena AG. Diese habe ihnen das Grundstück versprochen gehabt und die Verhandlungen plötzlich abgebrochen, sagt Zala. «Wer bezahlt uns jetzt die 200 000 Franken, die wir in die Projektierung investiert haben?» Die Mavena begründete den Schritt gegenüber dem «Bund» damit, Aum Shakti habe es unterlassen, den Kaufvertrag rechtzeitig zu unterschreiben. Laut Zala wurden die Verhandlungen jedoch wegen einer Projektänderung durch die Mavena verzögert.

«Wir sind nach wie vor am Land interessiert», sagt Zala. Man werde deshalb bei der Gemeinde anklopfen: «Wir werden nicht locker lassen.» Laut Neuenschwander hat die Gemeinde Belp jedoch «nicht im Sinn, das Land in nächster Zeit zu verkaufen». Eine Anfrage der Tamilen werde man aber prüfen.

Projekt war zonenkonform

Man habe auch bereits mit der Suche nach einem neuen Standort begonnen, sagt Zala. Wo, will er jedoch nicht sagen – man wolle verhindern, «dass dies noch einmal passiert». Künftig werde er eine Bestätigung der Gemeinde, dass sie nicht gegen den Bau vorgehen werde, verlangen. In Belp hatte er nur eine Bauvoranfrage gemacht, um sicherzugehen, dass das Projekt zonenkonform sei. «Die Antwort fiel positiv aus, doch nun wurde der Bau trotzdem verhindert.»

Ohne Dialog keine Integration

Auch in der Gemeinde Lyss, wo heute ein Teil des Vereins Aum Shakti zu regelmässigen Treffen und Gottesdiensten zusammenkommt, hat man für das Vorgehen der Gemeinde Belp wenig Verständnis: Sie verstehe zwar, dass sich die Belper bedrängt fühlten, sagt Ursula Lipecki, SP-Fraktionspräsidentin und Ko-Leiterin der Integrationsgruppe in Lyss. «Aber es ist sehr beleidigend für die Tamilen, wenn man das Thema nicht einmal diskutiert.» Es sei in einer Demokratie hoch problematisch, wenn eine Gemeinde die Leute einfach vor den Kopf stosse, ohne den Dialog zu suchen. «So findet keine Integration statt», sagt Ursula Lipecki – mit diesem Vorgehen, «einer Art Rassismus», werde das Problem vielmehr an eine andere Gemeinde abgeschoben.

«Jetzt Verbündete finden»

Es sei jetzt jedoch auch an den Tamilen selber, den Dialog aufzunehmen, statt sich als Opfer zu fühlen und sich zurückzuziehen, sagt Usula Lipecki: Sie hätten bisher in der Schweiz sehr versteckt gelebt, «nun wollen sie etwas von der Gemeinschaft Schweiz, also müssen sie sich mit der Gesellschaft, in der sie leben, auch auseinander setzen, sich öffnen und Verbündete finden».

In Lyss unauffällig

Viele Mitglieder von Aum Shakti seien in Lyss sesshaft, «ihr Anspruch auf einen Raum, wo sie ihre Religion ausüben können, ist deshalb legitim», sagt Lipecki. Der tamilische Verein falle in Lyss nicht negativ auf, bestätigt Gemeindepräsident Hermann Moser (fdp). Hier habe dieser noch keine Anfrage für einen Landkauf gemacht. Dass die Suche nach geeignetem Bauland auch in Lyss nicht einfach wäre, räumt Moser allerdings ein: «Unser Zonenplan hat keinen Platz für Kultusbauten vorgesehen.» Wenn jedoch eine Anfrage auf den Tisch läge, «müsste man dies prüfen», sagt Hermann Moser – bei der nächsten Ortsplanung werde die Gemeinde das Thema Kultusbauten jedenfalls mit Sicherheit diskutieren. Seiner Meinung nach sollten solche Bauten möglich sein, «sie sollten jedoch der Gemeindegrösse angemessen sein».

Tempel für die Göttin

Ein Kleinprojekt plant Aum Shakti allerdings nicht. Während sich der Verein – nach der Göttin benannt, die er anbetet – in der Gemeinde Lyss in einem kleinen Raum trifft, würde der Tempelneubau auch weiteren Vereinsgruppen zur Verfügung stehen: Geplant war in Belp ein Kubusbau mit einer kleinen Kuppel, in dem sich einmal wöchentlich 250 bis 300 Personen treffen würden. Während der Woche würden ausserdem vierzig bis fünzig Knaben und Mädchen in tamilischer Schrift, Sprache und Kultur unterrichtet.

Interview mit Mathias Kuhn, Assistent am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern.​

«Gemeinde ist keine Investorin»

«Bund»: Herr Kuhn, Sie sind Mitautor einer Studie über die «bau- und planungsrechtliche Behandlung von Kultusbauten». Wo liegen die Konflikte?

Mathias Kuhn: Das Hauptproblem ist, dass nur wenige Gemeinden Zonenpläne haben, die Kultusbauten zulassen. Vielen Gemeinden war beim Erlass ihrer Nutzungsordnungen nicht bewusst, dass hier ein raumrelevantes Bedürfnis besteht. Durch die Migration sind in den letzten Jahren viele Glaubensgemeinschaften gewachsen. Diese Gruppierungen möchten nun neue Glaubensstätten errichten oder bestehende Gebäude umnutzen. In vielen Orten ist dies aber nicht möglich, da eine entsprechende Baute oft nur in Zonen für öffentliche Nutzungen zulässig ist. Dort ist jedoch meist kein Bauland vorhanden.

In Belp sind Kultusbauten in Gewerbe- und Arbeitszonen noch nicht verboten. Verhindert wurde das Projekt der Tamilen trotzdem.

Es ist sehr schade, wenn eine fortschrittliche Gemeinde wie Belp einen Schritt zurück macht. Andere Gemeinden, etwa die Stadt Bern, gingen in eine andere Richtung: Hier wurden Zonen so definiert, dass Kultusbauten möglich sind. Aber gerade weil dies in den meisten Gemeinden noch nicht der Fall ist, ist es verständlich, dass die Gemeinde Belp eine Ballung befürchtet, nachdem sie schon der serbisch-orthodoxen Kirche eine Baubewilligung erteilt hat. Es wäre jedoch ehrlicher gewesen, wenn sie dies offen kommuniziert hätte. Stattdessen wurde die Diskussion umgangen, um nicht mit dem Vorwurf der Ungleichbehandlung oder gar der Diskriminierung konfrontiert zu werden.

Hat Belp mit seinem Vorgehen die Glaubensfreiheit verletzt?

Nein. Es liegt kein unzulässiger Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit vor, wenn Kultusbauten in bestimmten Zonen verboten werden. Es ist gerade der Sinn der Nutzungspläne, dass nicht überall alles gebaut werden kann. Massagesalons, Friedhöfe oder Kehrichtverbrennungsanlagen sind auch nicht überall zulässig. Problematisch ist allerdings Belps Vorgehen: Das Instrument zur Steuerung der baulichen Entwicklung ist die Ortsplanung. Eine Gemeinde hat jedoch nicht die Funktion, als Investorin aufzutreten und mit einem Landkauf direkt in die freie Marktwirtschaft einzugreifen, ohne dass ein klares Bedürfnis – etwa für den Bau eines Schulhauses – vorhanden ist.

Der Verein Aum Shakti wird nun einen neuen Standort suchen. Beginnt für ihn damit ein Spiessrutenlauf durch die Gemeinden?

Man sollte das Thema in einen politischen Prozess einbringen und nicht auf kommunaler Ebene, sondern regional oder kantonal angehen. Auf Gemeindeebene sind die politischen Hürden riesig. Für die Integration dieser Gruppen ist es jedoch wichtig, dass sie ihre Religion ausüben können. Der Kanton könnte den Gemeinden im Richtplan den Auftrag geben, Kultusbauten zu ermöglichen. Er könnte das Platzproblem auch besser koordinieren. Denn viele Glaubensgemeinschaften haben ein grosses Einzugsgebiet: Die Mitglieder kommen von weit, um sich an einem Ort zu treffen.

Text und Interview: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 29. September 2007 im "Bund".​

«Tempel wird verhindert»
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Der Landkauf der Gemeinde Belp wirft Fragen auf – Tamilen fühlen sich schikaniert.

Der tamilische Verein, der in Belp einen Tempel plant, habe seine Chance verpasst, sagt der Gemeinderat von Belp, der diese Parzelle nun erwerben will. Die Tamilen fühlen sich jedoch von der Gemeinde und der Mavena schikaniert.

Gemäss Botschaft des Gemeinderates zur Gemeindeversammlung vom nächsten Donnerstag ist der geplante Landkauf in der Aemmenmatt ein trockenes Geschäft: Für 2,4 Millionen Franken will er dort eine Parzelle kaufen, um künftig wieder besser steuern zu können, wer sich in Belp ansiedelt und wer nicht. Anders als die Botschaft vermuten lässt, ist das Geschäft jedoch brisant: Denn es handelt sich um genau jenes Land, das ein hinduistisch-tamilischer Verein kaufen will, um dort ein religiöses Zentrum zu bauen. Und spätestens seit den Kontroversen um die Baubewilligung der serbisch-orthodoxen Kirche in der Aemmenmatt erhitzt das Thema Sakralbauten in Belp die Gemüter. So haben die bürgerlichen Parteien im Juni vom Gemeinderat gefordert, weitere religiöse Zentren in Belp zu verhindern. Als «guter Schachzug» wurde denn auch das Vorgehen des Gemeinderats beurteilt, dieses Geschäft über die Bühne zu bringen, ohne das Thema Sakralbauten anzuschneiden («Bund» von gestern). Obwohl inoffiziell bestätigt wird, dass der Gemeinderat das Land bewusst mit der Intention kauft, das Tamilenprojekt zu verhindern, hält Gemeindepräsident Rudolf Neuenschwander an seiner Aussage fest, der Landkauf habe nichts mit dem Projekt der Tamilen zu tun. Diese hätten es verpasst, das Land zu kaufen, und kaum Interesse gezeigt.

Fazit: Aussage gegen Aussage

Dinesh Zala von der Archimm AG, der das Tempelprojekt des tamilischen Vereins Aum Shakti leitet, gerät in Rage ob solcher Aussagen. «Wir sind nach wie vor am Land interessiert», sagt er. Es habe zwar eine Verzögerung gegeben, doch die habe verschiedene Gründe. Für ihn sei klar: Die Gemeinde wolle den Tempel verhindern, nachdem sie gegen die serbisch-orthodoxe Kirche nichts habe unternehmen können.

Im Frühling 2006 habe er zum ersten Mal Kontakt mit der Firma Huber und Ploerer, die im Auftrag der Mavena für den Verkauf des Landes zuständig war, Kontakt aufgenommen, sagt Zala. Man habe daraufhin die sechs zum Verkauf stehenden Baufelder unter den Interessenten aufgeteilt. Im Dezember habe er bei der Gemeinde eine Bauvoranfrage eingereicht, «weil wir sahen, welche Probleme die serbisch-orthodoxe Kirche hatte – dies wollten wir vermeiden». Im März 2007 erhielt Zala von der Gemeinde eine positive Antwort – gemäss Baureglement sind Sakralbauten in der Industrie- und Gewerbezone nicht verboten. «Die Gemeinde verlangte jedoch, dass wir das Gebäude anders platzieren», sagt Zala – dafür habe man wiederum mehr Boden und Geld benötigt. Im April hatte Suresh Selavartnan von Aum Shakti gegenüber dem «Bund» gesagt, man werde das Baugesuch in Kürze einreichen. Im Mai habe er von Huber und Ploerer den neuen Kaufentwurf erhalten, sagt Zala. «Danach sagte uns die Firma, ein neuer Interessent sei an einem Teil unserer Parzelle interessiert» – man sei bereit gewesen, das Projekt erneut zu ändern. «Wir wollten nicht stur an unserer Parzelle festhalten.»

Dies sei ihnen nun zum Verhängnis geworden, sagt Zala – denn die Änderung erforderte wiederum einen neuen Vertrag, «doch der ist nie bei uns angekommen». Stattdessen habe er erfahren, dass die Gemeinde das Bauland kaufen wolle. Huber und Ploerer hätten gesagt, dass sie von der Mavena die Weisung erhalten hätten, jegliche Kaufverhandlungen zu sistieren.

«Tamilen selber schuld»

Letzteres wird von Arnold Muri, Geschäftsführer der Huber und Ploerer Immobilien AG, bestätigt. Mehr wollte er zu den Verhandlungen nicht sagen. Mit der Gemeinde habe die Mavena AG selbst verhandelt. Die Mavena sei interessiert, das Grundstück zu verkaufen, hiess es gestern von Seiten der Firma. Die Tamilen hätten ihre Chance, den Vertrag zu unterschreiben, jedoch nicht wahrgenommen und seien deshalb «selber schuld», dass ihnen nun jemand zuvorkomme: «Uns spielt es keine Rolle, an wen wir verkaufen – der Schnellere erhält den Zuschlag.» Und die Gemeinde war schnell: «Sie entschied sich sehr kurzfristig, dass sie das Land kaufen will.» Ausserdem sei es im Interesse von Mavena, wenn gleich alle drei verbliebenen Baufelder dem gleichen Käufer verkauft würden.

«In Schweiz gilt Religionsfreiheit»

«Wenn die Gemeinde wirklich Bauland braucht, weshalb hat sie sich dann nicht vorher gemeldet?», sagt Zala. Bis sie gekommen sei, sei der Landkauf nie in Frage gestanden. «Jetzt stehen wir mit abgesägten Hosen da.» Für die Tamilen sei dies niederschmetternd: «Wenn unser Projekt in Belp scheitert, wird es auch an anderen Orten scheitern.» Denn das Vorgehen des Gemeinderates sei klar gegen die Tamilen gerichtet.

Der Verein Aum Shakti, der sich heute in Lyss trifft, plante in der Aemmenmatt einen Kubusbau mit einer kleinen Kuppel. «Von aussen sieht man nicht, dass dies ein Tempel ist», sagt Zala. Schliesslich habe auch das Bundeshaus eine Kuppel. 40 bis 50 Kinder würden hier in tamilischer Schrift, Sprache und Kultur unterrichtet, und einmal wöchentlich gebe es einen Anlass mit 250 bis 300 Personen. Vorgesehen seien 80 Parkplätze. Und: «Für Belp gäbe es 15 neue Arbeitsplätze», sagt Zala. Tamilen seien seit Jahren gut integriert in der Schweiz, viele seien eingebürgert – «da muss man ihnen auch die Freiheit geben, ihre Kultur auszuüben». Schliesslich gelte in der Schweiz Religionsfreiheit – da gehe es nicht an, dass eine Gemeinde versuche, ein religiöses Zentrum zu verhindern, sagt Dinesh Zala.

KOMMENTAR

Fragwürdiges Vorgehen

Belp will in seinen Industriezonen Firmen und Unternehmen ansiedeln, die Arbeitsplätze schaffen und Steuern bezahlen. Das ist nachvollziehbar und legitim. Ein religiöses Zentrum leistet weder das eine noch das andere. Das Vorgehen des Belper Gemeinderats, das zumindest indirekt den Bau des tamilischen Tempels und Kulturzentrums des Vereins Aum Shakti in der Aemmenmatt verhindert, wirft jedoch Fragen auf.

So fällt der ungewöhnlich schnelle Entscheid just mit der Überweisung einer Motion zusammen, mit der die bürgerlichen Parteien eine «Ballung von Sakralbauten» in Belp verhindern wollen. Über diesen Hintergrund schweigt sich der Gemeinderat gegenüber der Bevölkerung jedoch aus, obwohl inoffiziell bestätigt wird, dass dieser das Tamilenprojekt mit dem Landkauf bewusst verhindern will. Einzelne Parteien werten dieses Vorgehen als «guten Schachzug». Er ist jedoch äusserst heikel: Denn indem der Gemeinderat so überstürzt in den freien Markt eingreift – und dies mit scheinbar guten Argumenten vertuscht –, setzt er sich dem Vorwurf aus, die Religionsfreiheit zu missachten.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich keinerlei Opposition regt. Denn nun wäre es an den Parteien, der Exekutive auf die Finger zu schauen. Es mag sein, dass der geplante Tempel den Zonenplan «zweckentfremdet». Fakt ist jedoch, dass ein religiöses Zentrum in der Industrie- und Gewerbezone noch nicht verboten ist.

Text und Kommentar: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 8. September 2007 im "Bund".​