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Meister der Töfflibuben
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Jahrzehntelang hat Bruno Andrenacci in Muri Vespas, Velos und Töfflis geflickt, nun geht er in Pension.

Ob ein tropfender Auspuff, ein geplatzter Velopneu oder Sorgen mit der Ehefrau – in «Brünus» Velo- und Töffwerkstatt in Muri wurde jedes Problem diskutiert und wenn irgendwie möglich auch behoben. In den 32 Jahren wurde Bruno Andrenacci zum Muriger Original, nun heisst es: «Arrivederci».

Der Abschied ist bitter. Bruno Andrenacci tut zwar so, als wäre nichts, als sei die kurz bevorstehende Ladenschliessung noch Jahre entfernt. Als würde das grosse Abschiedsfest für ihn nie stattfinden. Er hetzt durch seine Werkstatt, empfängt hier einen Kunden mit einem herzlichen «Ciao», prüft dort die Höhe eines Velosattels. Er dreht draussen den knarrenden Motor einer alten Vespa auf, die er am Tag zuvor geflickt hat, und klopft die Schulter eines alten Freundes, der hier regelmässig zu einem Schwatz auftaucht. Hund Jerry, sein «Chef», zottelt ihm hinterher. Ein Tag wie jeder andere, seit er 1975 seine Werkstatt hier im Murizentrum eröffnet hat. Und doch ist alles anders. Kein Töffli, kein Velo, keine Vespa, kein Motorrad steht mehr aufgereiht vor dem Laden. Der Abschied ist allgegenwärtig, die Werkstatt schon fast leer geräumt. Nur die Madonna blickt noch immer vom kitschigen Bild im Büro, und auf einer verblichenen Werbung posiert eine hübsche Italienerin sexy neben einem hellblauen Töffli. «Ciao ciao bambina», heisst es dort verheissungsvoll.

«Ich bin mit Muri gewachsen»

Für Bruno heisst es nun «Arrivederci»: 52 Jahre lang hat er in Italien, in Ostermundigen und seit 1975 in Muri Velos und Töfflis geflickt und verkauft. Nun geht der 67-Jährige in Pension. Er dürfe gar nicht an das Fest denken, sagt Andrenacci, der mit allen per Du ist, mit dem reichen Muriger Geschäftsmann wie mit dem Arbeitslosen, der täglich vorbeischaut. Er werde nur traurig, «wäge de Kinde», sagt er mit breiten italienischen Akzent. Er spricht von den Kindern, die schon vor dreissig Jahren in seinen Laden kamen. Die sich hier im italienischen Chaos wohl fühlten und für ein Gipfeli und Schoggistängeli am Morgen die Velos und Töfflis nach draussen schoben und aufreihten. «Wie viele habe ich aufwachsen sehen! Sie sind heute gross und kommen immer noch vorbei!» Er sei mit Muri gewachsen, sagt der hagere Mann mit dem südländischen Charme: Er kenne jeden hier – und jeder kenne ihn.

Hunderte Fahrräder hat er in dieser Werkstatt verkauft. Nächtelang hat er an kaputten Motorrädern gebastelt. Er sei der beste «Mech» der Region, heisst es bei seinen Kunden. «Er flickt alles und schraubt jeweils so lange, bis er herausfindet, was kaputt ist», sagt Hans Mehri, der seine Vespa schon zu «Bruno» brachte, als dieser in den 1960er- Jahren noch in einer Garage in Ostermundigen angestellt war. Schnell war der junge Italiener damals bekannt und wurde zum Meister der Töfflijugend aus der ganzen Region. Sogar aus Frutigen und Kandersteg seien sie gekommen, sagt Andrenacci und lacht. «Frisiert habe ich die Töfflis zwar nie, die Polizei hat mich oft genug kontrolliert.» Tipps habe er den Buben jedoch viele gegeben.

Motoren, seine Leidenschaft

Motoren waren schon immer Andrenaccis Leidenschaft: Als Halbwüchsiger begann der Bauernsohn in Teramo seine Lehre als Mechaniker. Damals, in den 1950er-Jahren, kurvte er auf seiner ersten Gilera um die Wette und schraubte an Maschinen von Rennprofis herum. Die alte rote Gilera – «ein richtiger Spaghetti-Töff» – steht jetzt neben vier weiteren in der Werkstatt. «Das sind meine ,Schätzelis‘», sagt Bruno, der alles sammelt, was ihm in die Hände kommt. Die meisten dieser Maschinen hat er bereits günstig verkauft, wie fast alles andere auch. Nur der rote Ducati, der komme zu ihm nach Hause, «in mein privates Museum».

Immer genügend Zeit fürs Soziale

Noch geht es in der Werkstatt jedoch geschäftig zu und her. Die Kunden sind gekommen, um ein letztes Mal in Andrenaccis Reich einzutauchen: Ein Reich, in dem Gott Italiener ist und einen Motor hat. Wo inmitten von alten Gefährten, Schrauben, Pneus, Velosätteln und Ferraribildern gelacht und gescherzt wird, wo nicht nur der Motorschaden der Vespa, sondern auch der Kummer mit der Liebsten und die Sorgen wegen des leeren Portemonnaies diskutiert werden. Tagsüber nahm sich Andrenacci jeweils Zeit «fürs Soziale». Zum Plaudern, zum Sprücheklopfen und Zuhören. «Arbeiten musste ich dann halt in der Nacht.» Er schaute dabei nicht auf die Uhr und schraubte etliche Stunden, ohne sie in Rechnung zu stellen – «Hauptsache, ich konnte es flicken». Schrauben und flicken wird Andrenacci weiterhin: in einer Mini-Werkstatt in Gümligen. Zum Spass und um den Kontakt mit den vielen «Kindern», die nun erwachsen sind, zu pflegen, sagt er und betrachtet die gepackten Bananenschachteln. Den Stapel mit den Formel-1-Heften und die Schmetterlinge, die mit farbigen Flügeln aufgestochen in einem Rahmen an der Wand hängen.

Text: Manuela Ryter
Dieses Porträt erschien am 11. August 2007 im "Bund".​

Anflug auf Bern via «Hotel Whisky»
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Mit dem Heli fliegt Pilot Nicolas de Sinner Lasten auf Hochhäuser oder zu Alphütten - und überblickt Stadt und Land von oben.​

Von oben betrachtet ist die Menschheit plötzlich ganz klein, sagt Pilot Nicolas de Sinner. Mit der Crew der Heliswiss transportiert er Masten, Klimaanlagen, Antennen, Holz oder auch Tiere mit dem Helikopter durch die Lüfte und setzt sie millimetergenau wieder ab - auf dem Bahnhofturm in Bern oder in den Alpen.​

​Mit leisem Surren setzen sich die Rotoren in Bewegung. Wie Schwerter zerschneiden sie die Luft, immer schneller und schneller. 50- 100-, 200-, 400-mal pro Minute. Nun dröhnt es im Innern des Helikopters auf der kleinen Flugbasis der Heliswiss beim Flughafen Gruyères. Nicolas de Sinner setzt sich den Gehörschutz auf, testet das Mikrofon. Vor ihm leuchten unzählige Lämpchen, er kntrolliert jedes einzelne, jede Anzeige, jeden Knopf. «Also, los gehts», ruft er, und seine drei Flughelfer steigen in den ratternden Helikopter. Die Maschine des Typs Écureuil hebt ab, sanft und leicht wie ein Spielzeug, von Kinderhand durch die Lüfte getragen. Die erste Mission der Crew: Auf dem Weg nach Köniz und Bern, wo mehrere Aufträge anstehen, warten auf einer Alp drei Paletten mit Baumaterial auf den Transport ins Tal. 

Ein Lächeln liegt auf Nicolas de Sinners Lippen. Er blickt hinunter auf die Erde, auf die Felder, die in einem riesigen Mosaik die Häuser umkreisen. Dunst liegt über dem Greyerzersee, doch im Tal Richtung Schwarzsee, in welches der Pilot steuert, leuchten die Wiesen und Wälder bereits in der Morgensonne. Am Morgen sei die Stimmung am schönsten, sagt er - auch wenn jeder Flug einzigartig sei, egal zu welcher Tageszeit oder bei welchem Wetter. ​De Sinner mag es, die «wunderschöne Landschaft» von oben zu betrachten. Die Zeit dazu findet der 51-Jährige jedoch nur auf Überflügen. Sonst ist er jeweils so konzentriert bei der Arbeit hoch oben am Himmel, dass er keine Zeit hat für die Welt, die ihm zu Füssen liegt.

Im Nu vom Flugplatz auf der Alp

Der Helikopter schwebt nun 300 Meter über Boden. Doch die Erde erscheint nah im heli, der vorne fast nur aus Plexiglas besteht - für eine perfekte Sicht auf die Lasten. Seit 30 Jahren fliegt de Sinner in den rotweissen Helikoptern der Heliswiss Lasten durch die Lüfte, transportiert sie an Orte, wo Lastwagen zu gross und Krane zu klein sind, um hinzugelangen: Er setzt bei Alphütten Waren ab, er transportiert frisch gefällte Bäume aus dichten Wäldern, er platziert Antennen auf Hochhäuser und setzt Masten zusammen, über die später Luftseilbahnen die Berge hochrattern. Und nicht selten fliegt er Kühe am 50 Meter langen Seil durch die Luft, um sie einzeln von der Alp ins Tal zu bringen.

Beim Helifliegen werde er wieder um kleinen Bub, sagt de Sinner. «Der Heli ist für mich wie ein grosses Spielzeug.» Er habe das Bild noch vor sich, wie er als Kind zum ersten Mal einen Armeeheli sah: Wie er übers Feld rannte, bis er ganz nah war, fasziniert vom Ungetüm, das vom Boden abhob und ganz ruhig in der Luft schwebte. Doch erst Jahre später, als er im Fernsehen Reportagen über eine Rettung an der Eigernordwand sah, dachte er an seinen Bubentraum zurück. 

«Hier irgendwo sollte die Hütte sein», sagt de Sinner zu seiner Crew und kreist um eine Alphütte auf dem Grad beim Schwyberg. Dann erblickt er die winkenden Menschen, steuert auf sie zu, sinkt und landet. Gras wirbelt durch die Luft, die Flughelfer steigen aus, rennen gebeugt aus dem Radius der Rotoren hinaus, die im unebenen Gelände gefährlich tief drehen. Der Pilot bringt «schnell» einen Passagier nach Schwarzsee, während die Crew Seile um die mit Blachen bespannten Paletten bindet. Die plötzliche Stille und Einsamkeit der Berghütte in der Morgensonne ist bizarr: so abgeschieden und doch nur wenige Flugminuten vom Flugplatz entfernt. Bald erscheint der Heli wieder am Himmel, um die Lasten abzuholen - mit dem ratternden Geräusch, das ans Skifahren erinnert. An gebrochene Beine und schmerzverzerrte Gesichter.

Himmel über Bern ist kontrolliert

​Mit der Crew an Bord hebt de Sinner wieder ab, in leichtem Sturzflug und mit enger Kurve, bis er wieder an Höhe gewinnt. Es ist wie Achterbahnfahren, nur sanfter  und eindrücklicher. Von oben sieht die Welt wieder ganz klein aus: Ein winziges gelbes Postauto kriecht in den Hügeln von Guggisberg die Kurven empor, die mächtigen Bauernhäuser sind zu kleinen Flecken geschrumpft. Die Idylle ist perfekt. Der Heli fliegt am Gantrisch vorbei, am Horizont erscheint bald die Gurtenantenne und weiter hinten der Sendeturm auf dem Bantiger. 

«Inbound Hotel Whisky», meldet de Sinner dem Tower von Bern und gibt damit seine Position - im Westen von Bern - durch. Das ist Pflicht, denn der Himmel über Bern wird kontrolliert: Jeder, der in die Kontrollzone fliegen will, muss sich beim Tower melden. Berns Süden heisst «Sierra», der Norden «November» und der Osten «Hotel Eco». In der Helisprache, um Missverständnisse zu verhindern.

Flughafen Belp: De Sinner startet «zur neuen Mission» beim Gymnasium Lerbermatt in Köniz. Eine neue Lüftung muss aufs Dach. Hier ist eine neue Crew zuständig, die drei Flughelfer aus Gruyères fahren im Auto bereits zum nächsten Arbeitsort: Bahnhof Bern, Postautoperrons. Auf dem Bahnhofturm muss das neue Funksystem der Kantonspolizei installiert werden. Die Lastwagen sind schon da: Die Flughelfer binden die Funkanlagen mit Seilen ein oder hüllen sie gekonnt in riesige Netze. Alls muss schnell gehen, denn schon bald ist ein roter Punkt am Himmel zu sehen, der immer näher heranschwebt, das lange Seil hinter sich herziehend. Flughelfer Marco Sartori steht auf dem Bahnhofturm, wartet und betrachtet das Rundpanorama: das Münster, die Universität, das Geleisewirrwarr. Menschen, die aneinander vorbeihetzen. Dann geht es Schlag auf Schlag: Der Helikopter schwebt über dem Funkkasten unten bei den Postautos und sinkt, genau nach den Anweisungen der Crew. Diese sei ebensowichtig wie der Pilot, sagt de Sinner später: «Lastenfliegen ist Teamwork, bei dem nur einer die Lorbeeren trägt.»

Der Traum vom Fliegen

Von unten ist ein weisser Punkt im Heli zu sehen: der Helm des Piloten, der sich konzentriert in die Bubble-Door lehnt. Wie ein Fischauge klebt diese Ausbuchtung an der Scheibe des Helikopters - sie erlaubt dem Pilot freie Sicht nach unten. Die Fracht wird eingehängt und der Heli zieht sie hinauf, als wäre sie leicht wie ein Lego-Stein.​ Der Heli werde mit der Last schwerfällig, sagt de Sinner. Wie ein Auto, das einen Berg hinaufkeucht. Für schwere Lasten - der Écureuil schafft maximal 1,2 Tonnen - sei deshalb Erfahrung und Fingerspitzengefühl wichtig: Denn sonst kann die Last gefährlich ins Schlingern geraten.

Doch jetzt sitzt jeder Griff, sowohl im Heli wie auch am Boden. Der Helikopter ​schwebt majestätisch über der Crew, der Funkkasten sinkt ruhig und langsam. «Noch zwei Meter. Noch einen Meter. Noch 50 Zentimeter. Noch 20 Zentimeter. Es passt», gibt Sartori dem Piloten durchs Mikrofon durch. Die Last wird platziert - millimetergenau. Der 24-jährige Tessiner hängt den riesigen Haken aus, und schon ist der Heli wieder weg, bereit für die nächste Ladung. Die Passanten in den Strassen halten inne und sehen sich das Spektakel an. Helikopter verkörpern noch heute den grossen Traum vom Fliegen. Den Wunsch, den Himmel wie ein Vogel zu erobern. Im Heli fühle er sich frei, sagt Sartori, der selber fliegt und davon träumt, Lasten zu transportieren. Im heli gebe es Action. Man könne hinfliegen wohin und landen wo man wolle. «Im Flugzeug hat man diese Freiheit nicht.» Im Heli fühle er sich wie ein kleiner Astronaut - am Boden jedoch werde er in seiner Arbeiterkleidung kaum beachtet.

Zivilisation wird zur Märklin-Welt

Wie eine Mondlandschaft sieht es neben dem Burgerheim aus, wo riesige Bagger den Neufeldtunnel in die Erde graben. Auch hier wird das neue Polizeifunksystem platziert. Danach eilen Marco und seine Leute in den Gäbelbach, de Sinner wartet im Neufeldstadion, trinkt Kaffee und fliegt los, sobald die Crew parat ist. Jedes Detail dieses Arbeitstages ist durchgeplant. Sonst wird es teuer: Eine Flugminute kostet mindestens 39 Franken. ​De Sinner fliegt nun über die farbigen Häuser in der Länggasse, über das leuchtend blaue Schwimmbecken im Weyermannshaus. Von seinem Arbeitsplatz aus überblickt er die Welt.

Nach der Arbeit über den massiven Hochhäusern führt ihn die Arbeit zurück nach Köniz, nach Belp und dann nach Muri. Am Nachmittag wird er das gleiche Funksystem bei Château-d'Oex auf ein Hochhaus fliegen, einen 1,2 Tonnen schweren Masten auf dem Col des Mosses montieren, schwere Steinziegel auf dem Dach eines Chalets in Villars abladen und Holz auf einer Alp bei der Gummfluh abholen. De Sinner kennt jeden Gipfel, jede Bergkette, jedes Tal. Distanzen werden relativ, aber auch die Menschheit: «Am Boden meinen wir Menschen, wir seien das Zentrum der Welt», sagt der Pilot. Aus der Luft aber werde der Mensch ganz klein: «Die Zivilisation wird zu einer Märklin-Welt, winzig und unbedeutend.» Nur 300 Meter über Boden veränderten die Sicht auf die Welt: Von hier aus seien Natur und Landschaft, Berge und Wälder mächtig, nicht der Mensch.

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 30. Juli 2007 im "Bund".​

«Für mich gibt es nur Badminton»

Jeanine Cicognini hat ihre Schweizer Konkurrentinnen – und die Schweiz – längst hinter sich gelassen. Für die 20-jährige Walliserin, grösste Schweizer Badminton-Hoffnung aller Zeiten, gibt es nur eines im Leben: den Sport. Und für den gibt sie alles.

Jeanine Cicognini, im Februar wurden Sie zum vierten Mal in Folge Schweizermeisterin im Einzel, und am Swiss Open gewannen sie heuer einen Match gegen eine Weltklassespielerin – für Schweizer Verhältnisse ein aussergewöhnlicher Erfolg. Was kommt als nächstes?

Jeanine Cicognini Dieses Jahr ist jedes Turnier wichtig. Im Mai hat die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Peking 2008 begonnen, und Peking geht über alles. Ich bin zufrieden: Ich bin die Nummer 1der Schweiz und momentan die Nummer 66 der Weltrangliste. Um in Peking teilzunehmen, brauche ich ein Ranking zwischen 60 und 70. Im Moment sieht es also gut aus. Aber ich muss dran bleiben – schliesslich will ich nicht den zweitletzten Qualifikationsplatz. 

Erfolg bedeutet Ihnen alles. Woher kommt dieser Ehrgeiz?

Mein Ehrgeiz ist riesig. Aber nicht grösser als bei den anderen Spielerinnen, mit denen ich im Olympiastützpunkt in Saarbrücken wohne und trainiere. Sie alle sind die Nummer 1 ihres Landes. Ohne diesen Ehrgeiz könnte man niemals zwei Mal pro Tag so hart trainieren.

Waren Sie schon immer so ehrgeizig?

Nein, überhaupt nicht. Als ich mit acht oder neun Jahren mit Badminton anfing, war ich das faulste Kind, das es gab. Ich joggte nicht gerne und war unmotiviert. Einzig Matches spielte ich gerne. Zielgerichtet trainierte ich erst ab 13 oder 14. Als ich dann merkte, dass ich viele Spiele verlor, weil ich keine Kondition hatte, konnte auch ich mich fürs Lauftraining motivieren. Heute jogge ich bis zum Umfallen, denn die Kondition ist nach wie vor mein Manko.

Nun sind Sie Badminton-Profi. Und dies, obwohl Badminton in der Schweiz ein Mauerblümchendasein fristet. Wie haben Sie das geschafft?

Erstens: Weil ich das unbedingt wollte. Und zweitens: Weil ich mit16 den Schritt wagte und von Brig nach Dänemark zog. Das war sehr hart für mich, aber ich wollte nicht stehen bleiben. Die Trainingsbedingungen in Dänemark waren nicht vergleichbar mit jenen in der Schweiz. In Saarbrücken ist es noch einmal eine Stufe härter. Für andere Schweizer Spieler war alles andere gleich wichtig wie der Sport: die Schule, Freunde, Freizeit. Für mich nicht. Für mich gab und gibt es nur Badminton.

In der Schweiz haben Sie längst alle Konkurrentinnen hinter sich gelassen. Mit Ihrem Namen verbindet man die Hoffnung, dass Badminton endlich den Durchbruch schafft. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?

Ich spüre keinen Druck. Ich trainiere für mich selbst und es macht mir unheimlich Spass. Für mich ist Badminton immer noch ein Hobby. Ich sehe mich auch nicht als Vorbild. Es gibt noch so viele bessere Spielerinnen.

Im Olympiastützpunkt soll der europäische Nachwuchs unter asiatischem Drill zur Weltklasse gebracht werden – gegen die Dominanz der Asiaten. Wie sieht Ihr Alltag in Saarbrücken aus?

Von 8 bis 17 Uhr wird trainiert, gegessen, zwischendurch geschlafen. Das Training ist extrem hart und alles läuft sehr professionell. Wer einen schlechten Tag hat, sollte das besser für sich behalten – man muss immer hundert Prozent Einsatz geben.

Bleibt da noch Zeit für sich selbst? Für Freizeit und Freunde?

Nicht viel. Am Abend muss ich für meine Ausbildung als Fitnessfachwirtin lernen. Manchmal gehen wir danach Essen oder ich schaue mir einen Film auf DVD an. Das ist für mich in Ordnung. Ich habe eine andere Einstellung als die meisten Jugendlichen. Ich vermisse es nicht, jeden Tag in den Ausgang zu gehen und zu trinken. Ich erlebe hier viel schönere Dinge, die andere in meinem Alter nie erleben.

Zum Beispiel?

Etwa die vielen Reisen. Diesen Sommer spiele ich in Afrika, Neuseeland, Australien, Malaysia. Wir sehen uns jeweils die grössten Sehenswürdigkeiten an, in China reisten wir zur Chinesischen Mauer. Oder das Gefühl, wenn man gewinnt – das ist unbeschreiblich. Man fühlt sich so leicht, so zufrieden. Man hat etwas erreicht, wofür man hart gearbeitet hat. Das kompensiert alles, worauf man verzichtet hat. In diesen Momenten weiss ich wieder, weshalb ich so hart trainiere.

Und bei Niederlagen? Haben Sie da Freunde, die sie trösten?

Niederlagen sind hart, auch wenn sie manchmal gut sind um zu sehen, woran es noch fehlt. Rückhalt erhalte ich in solchen Situationen eher vom Trainer, weniger von Freunden – auch wenn ich in Frankfurt zwei sehr gute Freunde habe. Hier im Zentrum sind die Spielerinnen Konkurrentinnen. Von ihnen kann ich nach einer Niederlage keinen Trost erwarten. Das ist manchmal hart, aber man darf sich mental nicht fertig machen. Schliesslich ist es super, dass ich hier Konkurrenz habe, damit ich immer das Ziel vor Augen habe. Das wäre in der Schweiz anders.

Und die Liebe?

Die ist an der Distanz zerbrochen. Für dieses Jahr habe ich mir fest vorgenommen, single zu bleiben. Jetzt zählt nur noch Peking.

Dieses Porträt erschien am 14. Juni 2007 im swiss sport 5/07, Magazin von Swiss Olympic. ​

Text: Manuela Ryter

Milizgemeindepolitiker sind am Anschlag
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Viele kleinere Gemeinden stossen mit dem Milizsystem in der Politik an Grenzen - dies sei eine Frage der Organisation, sagt der Experte

Zu grosse Arbeitsbelastung, zu kleine Entschädigung, kaum Ansehen in der Bevölkerung - viele Gemeinden sind mit dem Milizsystem am Anschlag. Braucht es Professionalisierung? Oder wird zu viel gejammert? Ein Blick in die Region.

«Viele Gemeinden stossen mit ihren Milizpolitikern allmählich an Grenzen», sagt Vechigens Gemeindepräsidentin Eva Desarzens (fdp). Mit dem Milizsystem erklärt sie denn auch den momentanen Missstand in der Vechiger Verwaltung und im Gemeinderat, den Walter Schilt (svp), der am 10. Dezember gegen sie zur Wahl ums Gemeindepräsidium antritt, im Vorfeld der Wahlen wiederholt beklagt hat. Tatsächlich steht in Vechigen nicht alles zum Besten: Die Gemeindeschreiberin hat wegen Überbelastung gekündigt und auch ihre Stellvertreterin sucht sich nach verlängerter Probezeit eine andere Stelle. Auch Gemeinderätin Irène Amacher (svp) tritt auf Ende Jahr zurück - ebenfalls wegen des Arbeitspensums. Bereits in vergangenen Jahren sind in Vechigen mehrere Gemeinderäte wegen Arbeitsüberlastung zurück- getreten. Als Milizpolitiker stosse man in aussergewöhnlichen Situationen schnell an Grenzen, sagt Desarzens - so sei die Erkrankung des im Juli verstorbenen Gemeindepräsidenten sehr belastend gewesen. Dies habe sich auf die Verwaltung ausgewirkt.

Politik als Ehrenamt

Vechigen steht mit Personalverschleiss und Überbelastung der Exekutivmitglieder nicht alleine da, wie der Blick in die Region Bern zeigt - für viele Gemeinden ist das traditionelle Milizsystem ein Problem, immer mehr Gemeinderäte treten vorzeitig ab, der Druck zur Fusion wird grösser: Stettlen etwa befindet in einer Woche über die Lohnerhöhung des Gemeindepräsidenten, nachdem eine Erhebung die «starke zeitliche Belastung für viele berufstätige Milizgemeinderatsmitglieder» aufgezeigt hat. In Frauenkappelen stellte sich Gemeindepräsident Cristoforo Motta (fw) vor zwei Jahren nicht aus Ehrgeiz zur Wahl, sondern weil niemand sonst bereit war, das Amt zu übernehmen. Und auch Konolfingen ist laut Gemeindepräsident Peter Moser (svp) «klar am Limit»: Die Belastung für Milizpolitiker sei enorm, die Verwaltung «am Anschlag». Er selbst sei rund drei Tage pro Woche für die Gemeinde im Einsatz: «Das kann sich nur leisten, wer in einer so privilegierten Lage ist wie ich», sagt der Unternehmer. Er hat das Geschäft seinem Sohn übergeben, um sich «voll auf die Politik» zu konzentrieren - für eine Entschädigung von 32 000 Franken. Eine bessere Entlöhnung bringe nichts, sagt er: «Wir machen Politik, weil wir etwas bewegen wollen, nicht wegen des Geldes.» Man müsse vielmehr der Verwaltung mehr Kompetenzen geben. Dies sei politisch jedoch kaum durchsetzbar: «Die Bürger wollen, dass die Politiker Politik machen, nicht die Verwaltung.»

Anforderungen steigen

Vor ähnlichen Problemen steht auch die doppelt so grosse Gemeinde Münchenbuchsee: «Die Gemeinderäte sind am Anschlag», sagt Vizegemeindepräsidentin Elsbeth Maring-Walther (sp) - doch jeder Versuch, der Verwaltung mehr Kompetenzen zu geben, werde von der Bevölkerung bachab geschickt, zuletzt das New-Public-Management-Projekt. Die Diskussion müsse jedoch wieder geführt werden, denn die Anforderungen seien gestiegen, weshalb «gewisse Geschäfte nicht kompetent genug angepackt werden können, wenn der zuständige Gemeinderat Vollzeit arbeitet». Ihrer Meinung nach sollten Gemeinderäte deshalb entlöhnt werden: «Sonst machen künftig nur noch Leute Politik, die Zeit haben, und nicht jene, die das nötige Know-how mitbringen.» Schon jetzt sei es für die Parteien vor den Wahlen schwierig, die Listen zu füllen.

«Eine Frage der Organisation»

Er könne diese Klagen nicht bestätigen, sagt indes Bernhard Lauterburg (fdp), Gemeindepräsident in Bremgarten: Zwar habe man sich «wegen der Arbeitsbelastung» gegen die Verkleinerung des Gemeinderates ausgesprochen. Bisher hätten sich jedoch immer kompetente Leute gefunden, «die diese Belastung auf sich nehmen wollen». Seiner Meinung nach sei ein vollamtliches Präsidium für Gemeinden unter 15 000 Einwohnern unnötig. Auch in Belp, Münsingen und Worb heisst es, das System funktioniere gut und die Gemeinden seien gross genug, um engagierte Leute zu finden - allerdings wurden hier bereits Massnahmen ergriffen. Auch laut Margret Kiener Nellen (sp), halbamtliche Gemeindepräsidentin in Bolligen, «ist die Arbeitslast für Gemeinderatsmitglieder im Milizsystem zumutbar, wenn die Verwaltung richtig besetzt ist». Dies bestätigt Politologe Andreas Ladner: Das Milizsystem sei ein anhaltendes Problem, es sei jedoch «eine Frage der Organisation»: Ein guter Gemeindeschreiber sei das A und O. Das Phänomen habe jedoch viele Ursachen. Dabei sei das Milizsystem sehr volksnah, auch es gehe nicht nur um Macht: «Es ist das Sozialkapital einer Gesellschaft.»

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 25. November 2006 im "Bund".​

Im Zauber der Fremde
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Fotos aus fernen Welten - das Völkerkundemuseum Burgdorf zeigt die Erinnerungen des Heinrich Schiffmann

Er war jung, reich, reiselustig und krank - und seine Leidenschaft galt der Fotografie: Der Burgdorfer Heinrich Schiffmann reiste mit seiner Kamera jahrelang «zur Kur» über die Weltmeere. Und kehrte mit Schachteln voller belichteter Glasplatten zurück. Die Fotos sind nun im Schloss zu sehen.

Heinrich Schiffmann, geboren 1872 am Kreuzgraben in Burgdorf. Unter dem linken Auge eine Narbe, auf dem Oberarm eine Tätowierung. Es ist ein Anker. Ein Seemannsanker. Aber «Henri» Schiffmann war kein Seemann, wie die Angaben in seinem Pass zeigen. Er war der Sohn einer betuchten Burgdorfer Kaufmannsfamilie. Er war jung und reiselustig. Und er war tuberkulosekrank - damals ein Todesurteil auf Zeit. Die Meeresluft werde ihm gut tun, rieten die Ärzte. Und so machte er sich 1892 als 20-Jähriger auf nach England und Norwegen, im Auftrag der Käseexportfirma seines Grossvaters, die er dereinst übernehmen sollte.

Im Dampfer reiste er später um die Welt, einmal gegen Westen, einmal gegen Osten. Er umschiffte Südamerika und fuhr nach Afrika. Er besuchte Jerusalem und Kairo, Tokio und die Falkland-Inseln. Im Gepäck hatte er stets zwei schwere Holzkoffer mit einem Fotoapparat und den zerbrechlichen Glasplatten, auf denen er seine Abenteuer verewigte. Und er sammelte Fotografien, Bücher, Dias und ethnographische Gegenstände - Souvenirs, mit denen er die Exotik der Fremde in die Heimat brachte. Er reiste, bis er 1903 auf einer Wanderung auf La Réunion, einer französischen Kolonie im indischen Ozean, erkrankte. Eine Erkältung. Oder Malaria. Er sollte sich nie mehr davon erholen. Doch seine vielen belichteten Glasscheiben blieben erhalten - ein Teil von ihnen ist nun im Museum für Völkerkunde im Schloss Burgdorf zu sehen.

Abenteuerlust und Pioniergeist

Mit seiner ethnographischen Sammlung, die Schiffmann in seinem Testament dem Gymnasium Burgdorf vermachte, legte der reiche Burgdorfer Weltenbummler den Grundstein für das heutige Völkerkundemuseum Burgdorf - 500 der insgesamt 4500 Objekte sind von ihm. Mit der Sonderausstellung «Auf Glas gebannt» wendet sich das Museum nun erstmals Schiffmann selbst zu.

Neben seinen eigenen Fotos und Dias sind auch gekaufte Studiofotos und Erinnerungen, Karten, seine Kameras und auch ein Guckkasten, mit dem man «dreidimensionale» Glasstereodias sehen konnte, zu sehen. «Dass ein Kaufmannssohn viel reiste, war keine Besonderheit - das gehörte zum guten Ton», sagt Ko-Museumsleiterin Katharina Meyer. Die Händler schickten ihre Söhne hinaus in die Welt, sie sollten Fremdsprachen lernen und «weltläufig» werden für die Arbeit im internationalen Handel. Aber dass einer eine Fotoausrüstung mit sich trug, war nicht alltäglich. Und aus Schiffmanns Fotos ist ersichtlich, dass er nicht nur des Handels oder der Tuberkulose wegen auf Reisen war, sondern auch aus Abenteuerlust und Pioniergeist.

Neffe hortete die Fotos

«Er war ,gwunderig’ und fasziniert von den Völkern. Die Geografie zu inhalieren, sie kennen zu lernen - das war sein Fanatismus», erzählt Alfred Guido Roth. Er ist der Neffe Schiffmanns, leitete während Jahren die Burgdorfer Käseexportfirma, die dieser hätte übernehmen sollen, und wohnt im selben Haus am Kreuzgraben, in dem Schiffmann geboren wurde. Und als promovierter Historiker hat er Schiffmanns Reisen näher unter die Lupe genommen: Er recherchierte und ordnete zusammen mit seinem Vater, dem Bruder Schiffmanns, die 1600 Papierabzüge, 800 Dias und 200 Stereodias, die er nun zum Teil dem Völkerkundemuseum übergeben hat. «Er ist mir lebendig vor Augen», sagt der 93-Jährige. Schiffmann sei ein Weltenbummler gewesen, «aber im Grunde war er ein armer Kerl, gezeichnet von seiner Krankheit».

Fotos der «Wilden» als Souvenir

Was Schiffmann auf seinen Reisen erlebte und was ihn an der Fremde anzog, lässt sich nur erahnen. Denn Tagebücher und schriftliche Dokumente hat er kaum hinterlassen. Doch seine Fotosammlung zeigt, wie er die Welt erblickte. Ein Segelschiff vor den Küsten Chiles. Der Blick auf das Deck der Drittklasspassagiere. Eine Marktszene in Syrien, eine bevölkerte Strasse in Guadeloupe, spielende Kinder in Tunesien, eine Brücke in Shanghai.

Die kitschigen Fotos, die er sich in den Hafenstädten dazukaufte, zeigen gestellte Szenen mit traditionellen Menschen. Sie zeigen die «Wilden» in den fernen Welten, tamilische Frauen mit nackten Brüsten und Chinesen mit langen Zöpfen. Bilder, die längst nicht der Realität entsprachen, die Schiffmann zu Auge bekam. «Sie zeigen das Traumbild vom Fremden, das die Europäer damals hatten: romantisch und zugleich primitiv.», sagt Katharina Meyer. Als Souvenirs seien solche Bilder besonders beliebt gewesen. Und mit solchen wollte Schiffmann nach Hause kehren. Denn schliesslich war er kein Seemann. Sondern ein betuchter Kaufmannssohn mit Entdeckergeist.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 4. Juli 2006 im "Bund".

Blumenpflücker für die Zukunft
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Im Safiental ticken die Uhren langsamer. Abgelegen und idyllisch, gehört hier die Natur noch den Bauern und den Steinböcken. Doch für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Die letzte Rettung heisst Tourismus. Wie ein Tal ohne Skilift, aber mit hohen Bergen um seine Zukunft kämpft.

Das Safiental beginnt im Postauto. Kurve für Kurve schlängelt sich der gelbe Bus aus der Rheinschlucht das Tal empor. Langsam und rumpelnd, über die schmale, schneebedeckte Strasse. «Wohin? Nach Safien?», fragt der Fahrer in breitem Bündner Dialekt und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, während er voll auf die Bremsen steht, damit das Postauto knapp vor dem Abgrund um die enge Kurve kommt. «Also nicht Berlin, nicht Paris?» Nein, Paris ist hier oben fast so weit entfernt wie der Mond.

Die Sonne. Knapp lugt sie über den hoch in den Himmel ragenden Felsmassen hervor, fast dreitausend Meter über Meer. Einst waren die Pässe, die das Walsertal in der Surselva eng umschliessen, der einzige Weg in die Aussenwelt. Doch das ist schon lange her. Oder doch nicht? Die Uhren ticken langsamer hier oben, sagen die Safier. Und bis die 30 Kilometer lange Holperstrasse durchgehend asphaltiert ist, dauert es mindestens noch 20 Jahre. Den Postautofahrer störts nicht, er zuckt mit den Schultern und pfeift gut gelaunt vor sich her. Draussen glitzert der Schnee in der Sonne, die Ställe der Viehzüchter thronen wie mächtige Burgen auf den Hügeln. Noch gehört die Natur hier oben Fuchs und Hase. Und den Bauern. Noch pflegen sie die saftigen Bergwiesen, die zur Schweiz gehören wie Heidi zum Peter. Und leben gut vom vielen Geld aus Bern. Aber vielleicht nicht mehr lange. Unrentable Bergregionen seien reine Geldverschwendung für die Schweiz, lassen die politischen Debatten im Flachland zugespitzt verlauten. Es sei an der Zeit, solche Täler zu entvölkern und der Natur zu überlassen. Für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Es sei denn, die 1041 Einwohner zeigen, dass das Tal nicht nur um ihretwillen Millionen an Steuergeldern verschluckt - bedeutend mehr als andere Bergregionen. Die Losung heisst Tourismus. Doch eigentlich bleiben die Safier viel lieber unter sich.

Tourismus im Blut

Herz ist Trumpf. Maria Hunger-Fry hat aber kein Herz. Jedenfalls nicht in ihren Karten. Mit einem versöhnlich schnalzenden Laut wirft sie ihre letzte Karte auf den grünen, abgewetzten Jassteppich. Ein Versicherer, ein «Transpörtler», Safiens Jagdaufseher und ein Bauer, knochig und urchig, mit langem Bart wie aus dem Bilderbuch, sitzen mit ihr am Tisch. Gemütlich und gut gelaunt, im Rathaus, dem einzigen Gasthof im Ort. Safien Platz: Das sind ein Wasserkraftwerk, eine Schreinerei, ein Forstbetrieb und eine Schule. Der Arzt kommt einmal wöchentlich, die Coiffeuse kommt gar nicht mehr. Noch leben in der Gemeinde 350 Einwohner. Die Jungen aber ziehen nach Chur oder Zürich und kommen nicht wieder zurück. Dienstag ist Männerabend in Safien. Aber Maria, 49, gut aussehend und jung geblieben, hat hier lange genug gewirtet, um im gestandenen Männerkreis akzeptiert zu werden. In Safien hat sie einiges bewegt. Und weckt das Tal gemächlich aus seinem Schlaf.

Neue Wanderwege, Ferienwohnungen in alten Walserhäusern, eine Sauna im Schnee und Kartenmaterial für Tourenskifahrer und Wanderer, für Spurensucher und Wildforscher - das alles schwebt Maria Hunger-Fry vor. Keine Massen, sondern «sanfter Tourismus» soll sich in den vier kleinen Dörfern Versam, Valendas, Tenna und Safien etablieren: Biker, Eiskletterer, Kanufahrer und Spaziergänger - jene Leute eben, die sich auch ohne Skilift, Schneebar und Shopping-Mall beschäftigen können. Tourismus ist Maria Hunger-Frys Leidenschaft. Schliesslich ist sie Safiens Tourismusdirektorin - «ehrenamtlich, versteht sich». Mit Verbündeten gründete sie die IG Safiental Tourismus, lockte Künstler ins Tal und gestaltete die Webseite im Internet. «Wir leben nicht am Ende der Welt, sondern in einer der schönsten Ecken Graubündens», schreibt sie dort. Ein Aufruf an potenzielle Gäste, aber auch an die Safier, die potenziellen Gastgeber. Denn noch steht im Safiental jedes zweite Haus leer und keiner schert sich darum. Investiert wird in die Landwirtschaft und nicht in den Tourismus. Die Bauern - in Safien sind es 37 Betriebe, die jährlich mehrere Millionen Subventionen verschlucken - werden das Projekt Tourismus erst unterstützen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Der Spielraum ist jedoch klein - die Gemeinden sind verschuldet und Kredite benötigen eine Bewilligung vom Kanton.

Der Kampf ums Überleben geht harzig voran. Doch langsam lassen sich auch die Politiker dafür begeistern: Gemeinsam mit den Touristikern gestalteten sie den «Wegweiser Tourismus», einen Fahrplan in die Zukunft. Mit mehr Kooperation soll das Safiental zur Marke werden für Kultur, Natur und Erholung. Die Gäste sind begeistert - in den Ferienzeiten ist jedes Bett vergeben. Dazwischen aber ist es tot im Safiental. Das will Maria ändern. Ihre Visionen sind allgegenwärtig - sie plaudert beim Nachtessen in ihrem Bauernhaus über die Umnutzung eines Maiensässes und auf der Schneeschuhtour zu den Eisfällen zuhinterst im Tal über die Vermarktung einheimischer Produkte. Nebenbei macht sie Fotos, damit alle im Internet sehen, wie Bergführer Christian Zinsli an Pickeln und Steigeisen den vereisten Wasserfall hochklettert - in der Hoffnung, die Leute auf ein Abenteuer «gluschtig» zu machen. Beim Jassen im Rathaus allerdings kommt Tourismus nicht zur Sprache.

Heimat - ein Menschenrecht?

An der Wand des Gasthofs hängen alte Fotos mit stolzen Bauern und kräftigen Kühen. Sie erinnern schwarz auf weiss an die Zeiten, als Heimat noch ein unantastbares Menschenrecht war und niemand davon sprach, abgelegene Täler seien aufzuforsten zu Naturparks für Rehe und Abenteurer. Als Maria noch Fry hiess und nicht Hunger wie jeder zweite im Tal und der Tourismus nach St. Moritz gehörte und nicht nach Safien Platz.

Sie ist eine Aussteigerin, wie viele andere 68er auch. Die einen gingen nach Indien. Maria kam ins Safiental. Zuhinterst, dort wo sich das Tal öffnet und sich die steilen Bergwände vereinen, übernahm sie als junge Frau das «Turrahus», bewirtete Bergler, Blumenpflücker und Tourenskifahrer. Zwei, drei Jahre wollte sie bleiben. Doch die Rätoromanin verliebte sich in die schöne Landschaft und in Safiens Schreinermeister. Das war vor 25 Jahren. Ein wenig «anders» blieb sie bis heute. Aber leben und leben lassen war schon immer das Motto der Walser. Und so lässt man auch sie leben, sie und ihren Tourismus. Auch wenn manch einer im Dorf den Kopf schüttelt.

«Tourismus?», fragt ein junger Landwirt am Stammtisch, der mit dem «Manneturnverein» ein Bier trinkt und Erdnüsse knabbert. Auch er schüttelt den Kopf. «Wofür denn? Bis die Touristen hier sind, bin ich schon lange nicht mehr da.» Die Männerrunde lacht ob der Vorstellung, Touristenmassen im Safiental anzutreffen. Was wollen die hier oben schon machen? Skilift habe es schliesslich keinen. «Auf der Strasse langlaufen!», ruft einer und erzählt, wie ihm am Morgen ein «Auswärtiger» auf Langlaufskis entgegenkam, «mitten auf der Strasse»! Er sei eigentlich für das Präparieren der Loipe zuständig, sagt er und blickt flüchtig auf den Nebentisch, wo Maria Hunger-Fry lachend und jassend ihren Charme ausspielt. «Aber leider bin ich noch nicht dazu gekommen.»

Lamas für die Zukunft

In Safien braucht alles seine Zeit - auch der Tourismus. Das wissen Angelika und Erwin Bandli nur zu gut. Auch sie sind «Aussteiger», grün und bodenständig, kamen nach Safien, «um wieder die Natur zu spüren». Aber in ihren Ställen stehen keine Rinder, sondern tibetische Yaks. Kein Hund bewacht den Hof, sondern ein mongolisches Kamel. Dschingis ist sein Name. Und damit Angelika und Erwin auch im Safiental Fremde zu Gesicht bekommen, kauften sie sich Lamas. Mit gestressten Städtern laufen sie nun seit fünf Jahren die Pässe hoch und kommen mit entspannten Menschen zurück. Doch die Ruhe im Tal wirkt nicht immer: Beim Gedanken an «jene ignoranten Politiker, die nur in Zahlen denken und das Safiental als nicht lebenswert bezeichnen», zieht Angelika Bandli wütend die Augenbrauen zusammen. Gegen diese Wut hilft auch das Lama nicht viel, das die Ohren in den Wind streckt und schläfrig hinter ihr her trottet. Dank dem Lamatrecking muss sich die Familie nicht auf die Direktzahlungen verlassen. Nötig seien sie trotzdem: Auch der Tourismus habe keine Chance, wenn das Safiental entvölkert sei. «Und die Bauern pflegen schliesslich das, was Touristen hier suchen: Die alte alpine Kulturlandschaft.»

Das Ende der Welt oder eine der schönsten Ecken Graubündens? Mehr Tourismus soll im Safiental neue Perspektiven öffnen. Christian Zinslis Touren zu den Eisfällen am Safierberg und Kamel Dschingis ziehen schon heute viele Gäste an. Maria Hunger-Fry/Manuela Ryter

Infos

Detaillierte Informationen: www.safiental.ch oder Verkehrsverein Safien (081 647 12 09).

Anreise: ÖV: Rhätische Bahn Chur- Versam, dann Postauto. Auto: Über Bonaduz (N 13) nach Versam.

Übernachtung: Gasthäuser: Thalkirch: Turrahus (081 647 12 03), Safien Platz: Rathaus (081 647 11 06), Tenna: Alpenblick (081 645 11 23) und Versam: Rössli (081 645 11 13). Lagerhäuser: Thalkirch: Thaler Lotsch (081 647 11 07), Tenna: Waldhaus (081 645 12 02). Privat: Schlafen im Stroh, in Alphütten oder Ferienwohnungen, Ferien auf dem Bauernhof. Siehe Homepage/ Verkehrsverein.

Angebot: Eisklettern, Biken, Wandern, Bergsteigen, Ski-/Schneeschuhtouren, Schlittschuhlaufen. Bergführer: C. Zinsli (079 683 80 30) und W. Stucki (081 921 68 38). Lamatrekking: Ein bis vier Tage (081 647 12 05, www.bandli.ch). Riverrafting/Kanu: 081 645 13 24.

Internetcafé im «z’cafi» in Safien Platz. 

 

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage entstand für den Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten und erschien am 21. Januar 2006 im "Bund". 

 

Zeichnerin der Angeklagten
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Gerichtszeichnerin Angela Zwahlen hält mit Bleistift und Papier Prozesse fest und gibt so auch Verbrechern ein menschliches Gesicht

Mit klaren Strichen und scharfen Konturen vermitteln Angela Zwahlens Zeichnungen den Zeitungslesern ein Bild aus dem Gerichtsaal. Ob Mörder oder Betrüger - die Bernerin zeichnet keine Monster, sondern ganz normale Menschen.

Angela Zwahlens letzte Zeichnungen aus dem Gerichtssaal sind noch präsent: Vier Jugendliche sitzen zwischen Polizisten auf ihren Stühlen und warten mit gesenktem Blick auf ihr Urteil - es sind die vier Postgasse-Täter, die im Mai 2003 in Bern einen wehrlosen Mann zusammenschlugen und schwer verwundet auf der Strasse liegen liessen. Ihre Gesichtsausdrücke, ihre Körperhaltung, ja gar kleinste Details ihrer Kleidung sind fein und präzise mit Bleistift festgehalten. Die Zeichnungen zeigen sie als normale Jugendliche. Sie sehen nicht aus wie brutale Schlägertypen, die mit den Schuhen auf den Kopf des Opfers eintraten und danach mit blutigen Kleidern in einer Bar auf die Tat anstiessen, während der Mann um sein Leben rang.

«Die meisten Täter sehen aus wie ganz normale Menschen», sagt Angela Zwahlen. Während wichtiger Prozesse sitzt sie für den «Bund» im Gerichtssaal und macht Verhandlungen «sichtbar», denn Fotografieren ist in Gerichten nicht erlaubt. Vielleicht lösen ihre Zeichnungen beim Betrachter gerade deshalb so viele Emotionen aus, weil sie nicht jene Monster darstellen, die man erwartet, sondern ganz normale Menschen. «Ich versuche, präzise zu zeichnen, denn ich will auch den Angeklagten gerecht werden. Ich will keine Täterprofile oder Karikaturen zeichnen - es ist nicht meine Aufgabe, jemanden zu verurteilen.»

Mitleid und Grauen

Die Bernerin Angela Zwahlen sitzt in ihrem Loft in Biel, das ihr und ihrem Partner als Atelier und Wohnraum dient. Neben ihrem weissen Arbeitstisch sind Farben und Maltuben ordentlich zusammengestellt, und auf dem Fenstersims stehen kleine, farbig gemalte Porträts von Wirtschaftsleuten - ein Auftrag für ein Wirtschaftsmagazin, erklärt Zwahlen. Seit sechs Jahren zeichnet die freischaffende Illustratorin auch im Gericht. «Die Arbeit fasziniert mich - ich beobachte und zeichne Menschen, die ich nicht kenne, und bekomme ihre Taten, aber auch ihre Lebensgeschichten mit», erzählt die 36-Jährige. Mitleid für Angeklagte, aber auch Grauen vor ihren Taten vermischten sich dabei häufig.

Angela Zwahlen sitzt oft stundenlang im Saal, in nächster Nähe der Angeklagten, beobachtet, skizziert und zeichnet. Zum Teil sei es ein langweiliges Prozedere, sagt sie. Viele Prozesse gingen ihr jedoch sehr nah. Manchmal zu nah, dann helfe nur noch Oropax: «Zum Teil erzählen sie grauenhafte Geschichten, schildern Details von einem Mord oder einem Sexualverbrechen. Dann wird mir unwohl, und ich ziehe mich zurück, sonst wird die Zeichnung ungenau und schlecht.»

Verkleidete Angeklagte

Zwahlen erzählt von ihren Erlebnissen bei den Prozessen, verschiedene Zeichnungen liegen verstreut vor ihr auf dem Tisch - sie zeigen gleichgültige Betrüger, nachdenkliche Mörder, unschuldig blickende Sexualverbrecher, aber auch Polizisten, Anwälte und Richter. «Manchmal frage ich mich, was sie wohl denken, wenn ich sie stundenlang beobachte und zeichne», sagt sie. Einige bemerkten sie gar nicht, anderen sei es sichtlich unangenehm. «Einmal begann ein Angeklagter plötzlich, mich abzuzeichnen», erzählt sie und zeigt auf die Zeichnung eines Mannes in Fussfesseln, der im Prozess von Damaris Keller vor Gericht stand. «Bei diesem Spielchen wurde mir unheimlich.» In einem anderen Prozess hätten angeklagte Polizisten Perücken und Brillen getragen. «Ich bemerkte erstaunt, dass die sich meinetwegen verkleideten, aus Angst, man könne sie auf den Zeichnungen erkennen.» Seither zeichne sie alle Polizisten im Gericht anonym und linear.

Interpretation der Wirklichkeit

Sie glaube allerdings nicht, dass man die abgebildeten Leute aufgrund der Zeichnungen wiedererkenne, sagt Zwahlen - auch wenn sie die Leute so naturalistisch wie möglich darstelle. «Sie sollen sich ähnlich sein. Aber eine Zeichnung ist nicht wie ein Foto - sie ist eine Interpretation der Wirklichkeit.» Eine Zeichnung sei auch keine Momentaufnahme, sondern entstehe fliessend - zwei bis drei Stunden arbeitet Zwahlen jeweils daran.

Dabei achtet sie besonders auf Klarheit und Präzision - auch Details wie Kleider, Uhren oder Frisur seien ihr wichtig, sagt Zwahlen. Hier kommt ihr die frühere Arbeit in einem Zeichentrickfilmstudio zugute. Auch wenn Zwahlen mit Strichen, Flächen und Konturen spielt - als Kunst bezeichnet sie ihre Gerichtszeichnungen nicht. Kunst brauche mehr Freiheit, sagt sie. Ein Anwalt sah das anders: Er fand ihre Zeichnungen vom Prozess gegen Werner K. Rey - ihrem ersten Prozess - so toll, dass er ihr die Originale gleich abkaufte.

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 11. Oktober 2005 im "Bund".​

Von der Liebe zu Autos und Frauen
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Mit einem Tuning-Fan an der Auto-Emotionen-Messe in Bern.​

Violett schimmert Daniel Siegrists Auto. Das heisst, je nach Licht. Von hinten schimmert der tiefer gelegte Wagen mit dem futuristischen Heckflügel eher rötlich. Oder ist er blau? Kamäleon heisse diese Farbe - das sei ein Lack mit Goldstaub, 1000 Franken pro Liter, erklärt Siegrists Freundin Franziska Wernli. Sie ist Autolackiererin. Er ist Automechaniker. Das Auto war einmal ein blauer VW Vento 6 Zylinder. Nun ist der geheimnisvoll schimmernde Wagen ein Unikat. Genau wie all die anderen glänzenden, dröhnenden und tönenden Tuning-Autos auf dem Gelände der Auto-Emotionen-Messe an der BEA. Hier ging es drei Tage lang um breite Räder und verchromte Felgen, um Turbolärm und hämmernde Bässe. Und um Frauen. Doch dazu später.

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Ein richtiger Tuning-Freak kauft kein präpariertes Fahrzeug. «Ich habe die gesamte Carrosserie des Autos selbst zerlegt», sagt Daniel Siegrist und zeigt stolz seinen Wagen, den er als Besucher auf dem Ausstellungsplatz präsentiert. Er grüsst hier und dort, man kennt sich in der Szene. Der Kotflügel wurde verbreitert, damit die breiten Räder darunter passten. Siegrist schweisste auch eine neue Motorhaube an, wechselte Auspuff und Seitenspiegel für den Sportlook, entfernte alle Kennzeichen der Automarke. Auch Stossstangen und Seitenschweller seien neu, damit das Auto tiefer liege. Und im Innenraum fehlen natürlich auch die Sportsitze und eine 2500-Watt-Musikanlage mit Verstärker nicht. «Den Motor habe ich erst zum Teil verchromt», sagt Siegrist - ein Tuning-Auto sei nie fertig, da sei immer etwas zu verbessern. Er sei ein Perfektionist, «doch das geht ins Geld» - sechs Monate Arbeit und 25 000 Franken habe er bisher ins Aufpeppen dieses Autos investiert, sagt der 25-Jährige aus Reconvilier und lässt den Motor aufbrausen. «Ein schöner Lärm, nicht?» fragt er und lacht.

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Die Ausstellungshallen, in denen Tuning-Clubs ihre Wagen präsentieren und Firmen Felgen, Stossdämpfer und Hifi-Anlagen anbieten, hat sich Siegrist schon mehrere Male angesehen. Technobässe hämmern aus unzähligen Autoboxen und vermischen sich mit dem Stimmengewirr der Besucher - 22 000 waren es insgeamt, 7000 mehr als letztes Jahr. Es gebe nicht nur Sportwagen, sondern auch alte Autos, die getunt seien, sagt Siegrist und zeigt auf einen VW-Käfer. Schliesslich gehe es beim Tuning um schöne Autos und nicht um schnelle. «Rasen würde ich mit einem getunten Auto nie. Der Look ist wichtiger.» Man könne es aber auch übertreiben, sagt Siegrist und zeigt auf einen ausgestellten Wagen, der im Takt der Musik aufblitzt und den Boden blau beleuchtet. Ihm gefielen dezenter aufgepeppte Wagen besser. «Ich möchte lieber auf den zweiten Blick auffallen.» Aber jeder habe seinen Stil, sein eigenes Auto - das mache Tuning ja gerade so spannend.

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Liebe sei es nicht, die er für Autos empfinde, es sei eher Leidenschaft - «man liebt ja nicht Autos, sondern Menschen», sagt der Automechaniker und beobachtet, wie sich die Kandidatinnen der Miss-Auto-Emotionen-Wahl gerade auf den Formel-1-Wagen räkeln. Schöne Autos, schöne Musik und schöne Frauen, das passe zueinander, sagt er. Aber schliesslich zählten in der Liebe nicht nur äussere Werte. Beim Auto schon.

Text: Manuela Ryter

Dieses Feature erschien am 19. September 2005 im "Bund".​

Kinder, Küche und Karriere
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Drei Mütter wirken in der Leitung der Agentur Freiburghaus und Partner mit - ein Einzelfall in der Werbebranche

Das Kind auf dem Arm und die Präsentation im Kopf: Drei Frauen der Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner zeigen, dass mit Teamwork und viel Einsatz auch in der Werbebranche Kaderjob und Familie vereinbar sind.

Nächtelanges Tüfteln an der neuen Idee, unzählige Überstunden wegen der kommenden Präsentation, stete Verfügbarkeit für die Kunden: Wer in der Werbung arbeitet, tut dies voll und ganz - oder gar nicht. Der niedrige Anteil an Teilzeitarbeitenden in der Branche zeigt, dass am Klischee des Werbers als «Workaholic» etwas dran ist: Teilzeit ist in vielen Agenturen tabu, Frauen müssen sich deshalb oft zwischen Karriere und Familie entscheiden - gerade in der Werbebranche, in der Flexibilität gross geschrieben wird. Frauen mit Kindern sucht man in Kaderpositionen fast vergebens.

Dass es auch anders geht, zeigt die Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner. Inhaber und Creative Director Simon Freiburghaus arbeitet in der Geschäftsleitung mit drei Frauen zusammen, die neben Sitzungen auch Zeit für Hausaufgaben und Mukiturnen finden: Pascale Berclaz, Mutter von zwei Kindern, und Barbara Brügger, die gerade Mutterschaftsurlaub bezieht, beraten die Kunden und leiten die Produktion. Romy Freiburghaus ist für die Finanzen und das Personal zuständig - daneben betreut sie drei Kinder und arbeitet als Dozentin.

Das unkonventionelle Arbeitsmodell hat Erfolg: Die 1996 als Werbeduo Freiburghaus und Banderini gegründete Agentur hat heute 14 Angestellte und zählt zahlreiche grosse Firmen zu ihren Kunden, so zum Beispiel IP-Suisse, Novartis Consumer Health, Swiss Olympic Association, den Verband Schweizer Metzgermeister und das Stade de Suisse.

Teilzeit in Kaderjob unmöglich . . .

Dass das Arbeitsmodell der Berner Werbeagentur in der Werbebranche nicht üblich ist, bekamen die Frauen zu spüren: Als Romy Freiburghaus vor 14 Jahren ihr erstes Kind erwartete - sie arbeitete damals als Werbeleiterin -, hiess es: Vollzeit oder gar nicht. «Daraufhin habe ich gekündigt», erzählt die 41-Jährige. Hinter ihr prangt riesig ein Plakat, das eine unaufgeräumte Küche zeigt und mit dem Slogan «Schuhe zum Davonlaufen» für das Schuhhaus Botty wirbt. Auch heute sei Vollzeit in vielen Agenturen ein ungeschriebenes Gesetz, sagt Freiburghaus: «Das ist schade, denn so geht der Branche viel Know-how verloren.» Auch Pascale Berclaz bekam 1999, als sie trotz Kind den Kaderjob bei Freiburghaus und Partner annahm, von Berufskollegen zu hören, Teilzeit sei in dieser Position unmöglich. «Wir haben das Gegenteil bewiesen», sagt die zierliche, elegante Frau nicht ohne Stolz.

. . . oder Frage der Organisation?

Organisation und Teamwork, aber auch flachere Hierarchien seien das A und O. «Wenn wir nicht da sind, werden die Kunden von unseren Planern betreut», sagt Barbara Brügger - man müsse Verantwortung teilen und abgeben können und dem Team vertrauen. Pascale Berclaz bezeichnet das Arbeitsmodell als «Win-win-Situation», denn auch die Firma profitiere davon: «Sie bezahlt ein halbes Hirn und erhält ein ganzes.» In einer Führungsposition könne sie an Feierabend nicht den Stift ablegen und mit freiem Kopf nach Hause gehen: «Ich bin zwar physisch nicht immer anwesend, geistig aber hundertprozentig», sagt die 34-Jährige. Sie sei übers Handy jederzeit für ihre Kunden erreichbar, checke alle drei bis vier Stunden ihre E-Mails und denke sich mit dem Kind auf dem Arm und dem Kochlöffel in der Hand auch mal eine Idee für die neue Präsentation aus. Einzig wenn eine wichtige Präsentation anstehe - das sei etwa fünf- bis sechsmal im Jahr -, werde auch sie zum «Workaholic», «aber da wird die ganze Familie vorgewarnt», fügt sie lachend hinzu. Ihr Sohn schicke ihr jeweils ein SMS mit dem Text «Viel Glück Mami».

Das schlechte Gewissen

Die Doppelbelastung könne einen jedoch auffressen, sagt Pacale Berclaz. Das sei wohl auch der Grund, weshalb sich viele Mütter gar nicht auf eine leitende Funktion einliessen - «Agenturarbeit ist auch ohne Familie ein sehr stressiger Job.» Die grösste Herausforderung sei jedoch das «latent schlechte Gewissen». Gegenüber den Kindern, aber auch gegenüber dem Team. Berclaz erzählt, wie ihre kleine Tochter an diesem Morgen einen Schreikrampf hatte und partout nicht wollte, dass ihr Mami arbeiten geht. Oder von jenen Tagen, wo auf der Arbeit Stress ansteht und ausgerechnet dann ein Kind krank wird. In Krisensituationen komme das Kind an erster Stelle, sagen die drei Frauen einstimmig. Und auch wenn einmal nicht alles klappe, «Unverständnis von Seiten der Kunden gab es noch nie, im Gegenteil - sie zeigen jeweils Anteilnahme», sagt Berclaz.

Im gesellschaflichen Umfeld stossen die drei Frauen allerdings häufig nicht auf Verständnis; «Rabenmutter» und «karrieregeil» seien immer wieder gehörte Bemerkungen. «Und wenn in der Schule etwas nicht läuft, heisst es immer gleich: Die Mutter arbeitet», sagt Pascale Berclaz, die auf dem Land wohnt und ihre Kinder von einem Au-pair betreuen lässt. Das Problem sei, dass «die Solidarität unter den Frauen fehlt», sagt Romy Freiburghaus - gerade auch am Arbeitsplatz.

Die Frau und die Emanzipation

Angesprochen auf die Mitarbeit der Männer in der Familie, verstummen die Frauen. Das sei ein delikates Thema, sagen sie. Wenn ein Kind krank sei, bleibe sie zuhause, sagt Romy Freiburghaus. «Die Frauen sind heute emanzipiert - sie tragen aber nach wie vor viel mehr Verantwortung für Haus und Kinder», sagt Barbara Brügger. Die 33-Jährige teilt die Betreuung ihrer Tochter mit ihrem Mann. Man müsse «Männer mehr ins Gebet nehmen», sagt sie. Bei ihnen stosse die Forderung nach Teilzeit allerdings auf noch mehr Widerstand als bei Frauen.

Die Frau und die Werbung

Sie seien keine Quotenagentur. Und dennoch - Frauen tun der Branche gut, davon ist man bei Freiburghaus und Partner überzeugt: «Frauen haben viel Einfühlungsvermögen und ein gutes Gespür für Kunden», sagt Barbara Brügger. Ausserdem sei die Werbung «eine aufgeblasene Branche» - als Mutter nehme man die Dinge gelassener. «Wenn ich abends mein Kind schlafen sehe, relativiert sich der Stress um die Werbekampagne», sagt Pascale Berclaz. Das spiegle sich auch in der Werbung wider: «Wir wollen keine schreierische, sexistische Werbung mit dem letzten Humor machen. Sondern ehrliche.»

Auch Simon Freiburghaus ist überzeugt, dass die «exotische Führungsstruktur» mit den Frauen in der Leitung die Agentur präge. «Nicht weil sie Frauen sind, sondern wegen ihrer Doppelverantwortung in Job und Familie», sagt er. Sie setzten die Investitionen der Kunden pragmatischer und zielorientierter ein als andere Agenturen: «Wir schlagen einen Vernunftsweg ein. Wir wollen keine Werbung als ,l’art pour l’art‘. Und bleiben trotzdem authentisch.»

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 6. September 2005 im "Bund".​

Keuchend den Alten Schyn hinauf
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BIKEN IN GRAUBÜNDEN

Nach jedem Aufstieg eine rasante Abfahrt, hinter jedem Berg eine neue Welt. Wer mit dem Bike durchs Bündnerland fährt, zieht an romantischen Auen vorbei, bezwingt steile Pässe und fährt durch malerische Dörfer. Nun soll der Gebirgskanton als Bikerhochburg vermarktet werden.

Es ist nicht nur das prächtige Schloss des SVP-Bundesrats, mächtig über dem Hinterrhein thronend, das den Bikertrupp zum Stoppen bringt. Es ist auch der Ausblick auf das sprudelnde, milchig-blaue Wasser, das in Rhäzüns über die Steine fliesst, es ist die kahle, steile Schlucht, es sind die tannengrünen Berge. Sie bieten eine lohnende Gelegenheit für ein erstes Ausschnaufen seit dem Beginn der Bike-Tour in Chur. Vier Tage soll die Reise dauern, quer durch die vielen Landschaften des gebirgigen Kantons.

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150 Täler zählt Graubünden, der flächenmässig grösste Kanton der Schweiz, und jedes davon hat seine eigene Landschaft und Geschichte. Diese Vielfalt macht das Bündnerland für den Biker interessant: Es gibt unzählige Pässe zu bezwingen, steile Abfahrten auf Schotterwegen oder schmalen Pfaden, Single-Tracks genannt, aber auch sanfte Wege entlang von Flüssen und Auen. Viel schneller als der Wanderer und doch in dessen Spur, kann der Biker inmitten der Natur in kurzer Zeit stattliche Distanzen zurücklegen. «So viele ungeteerte Strassen, Wander- und Forstwege gibt es in der Schweiz in kaum einer anderen Region», sagt Gerd Schierle aus Parpan, der als «Bike-Explorer» bekannt ist - unter diesem Label bietet er Tourenvorschläge, Infos und Bike-Karten an.

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Sanft führt der Weg ins hügelige Domleschg. Grasende Kühe beobachten mit gewohnter Gleichgültigkeit die keuchenden Biker. «Burgenland von Graubünden» wird das Tal genannt. Tomils, Paspels, Scharans - die schmucken Dörfer sind menschenleer, die Zeit scheint still zu stehen. Kein Laut ist zu hören, nur das Zirpen der Grillen und das Knirschen der Räder. Häuser und Menschen passen sich der Landschaft, ihrer Ruhe und Intensität, an.

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Wer mit dem Bike durch Graubünden fährt, kommt zwar auch wegen der Ruhe in den Bergen - sucht jedoch immer auch die Herausforderung: Er will Kilometer runterspulen, Höhenmeter bezwingen. «Viele Touren beginnen hier bereits auf 1000 oder 1500 Metern», sagt Schierle, «erst auf dieser Höhe wird es spannend.»

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Scharans liegt auf 760 Metern. Lenzerheide auf 1500. Fast bedrohlich ragt die Bergwand des Alten Schyn vor dem anfahrenden Biker in den Himmel. Der Weg wird steiler, schmaler und steiniger, im kleinsten Gang strampelt man in der brütenden Hitze langsam empor. Die Zeit, Schmetterlinge zu beobachten und die Landschaft zu bestaunen, findet man erst oben. Dieses Gefühl, den Gipfel erreicht und die Strapazen überwunden zu haben, ist es, was viele Biker überwältigt. Und dann die Abfahrt ins nächste Tal, in vollem Tempo den Abhang hinunter, das Fahrrad auf dem losen Geröll der Schotterwege balancierend. Einem Wanderer begegnet man so gut wie nie.

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Erstellt wurden die vielen Wege für Wanderer - erst in den letzten Jahren wurden sie von den Bikern erobert, was von der Wanderlobby nicht immer goutiert wurde. «Biken war bis vor einem Jahr ein rotes Tuch im Graubünden», sagt Claudio Duschletta von Engadin Tourismus. Das solle sich nun ändern, denn es komme fast nur im Tal zu Problemen zwischen Velofahrern und Spaziergängern, «in der Höhe gibt es kaum Konflikte».

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Von Lenzerheide führt der Weg auf schmalen Single-Tracks nach Alvaschein und ins Landwassertal, vorbei am berühmten, hundertjährigen Landwasserviadukt der Rhätischen Bahn. Man fährt durch tiefe Wälder, das Bike muss hier über einen Baumstamm getragen, dort über steile, verwurzelte Wegstücke gestossen werden. Wer schliesslich von Bergün ins Engadin gelangen will, hat die Wahl: Er nimmt die 900 Höhenmeter des Albulapasses unter die Räder - oder setzt sich zwischen die Touristen in der Rhätischen Bahn, die über viele Rundtunnels und Viadukte den Albula passiert: Die gemütliche Version, einen Pass zu überwinden.

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Nicht nur die Rhätische Bahn, die in fast allen Zügen Selbstverlad von Bikes anbietet, auch die Touristiker haben das Potenzial von Graubünden als Biker-Destination erkannt. Mit Bike-Karten, geführten und ausgeschilderten Touren, Bikeparcours, Downhillstrecken, GPS-Touren (Text unten), Rennen und Bike-Hotels wollen sie das Wanderparadies nun auch zur Bikerhochburg machen - in der Hoffnung, so den Sommertourismus anzukurbeln. Einzig die Bergbahnen machen nicht mit - viele Betreiber weigern sich, die sperrigen Bikes zu transportieren.

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Hinter dem Albula ist das Tor ins Oberengadin, in eine neue Welt - das Tal erstreckt sich mit sanften Steigungen von Pontresina nach Zernez, durch steile Bergketten hindurch. Ein Radweg dem Inn entlang führt an romantischen Auenseen vorbei, in denen sich die Berge spiegeln. Alte, schöne Häuser mit Sgraffito-Verzierungen stehen neben protzigen Ferienhäusern ohne Charme. Erst im Unterengadin in Lavin oder Guarda, Ardez oder Ftan findet man in die engen, malerischen Bündner Dörfer und zum sanfteren Tourismus zurück. Die Brunnen warten stets mit frischem Wasser - in Scuol sprudelt gar säuerliches Mineralwasser aus dem Dorfbrunnen.

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Biken boomt, und an Initiativen fehlt es nicht. Gute Karten und Infos zu Wegbeschaffenheit, Kondition- und Technikanforderung sind für den Biker von Auswärts ein Muss, denn nicht alle Wanderwege sind auch mit dem Bike passierbar. Zwar bietet die Dachorganisation «Graubünden Ferien» verschiedene Informationen an, doch der Individualbiker muss sich durch etliche Webseiten, Tourenangebote und Prospekte kämpfen - es sei denn, er fährt nach einem Führer, der Tourenvorschläge, Karten und Infos im Internet, als Buch oder auf DVD anbietet.

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Nicht nur um das Bike zu schonen verlässt man das Engadin wieder im roten Zug, diesmal durch den Vereina-Tunnel ins Prättigau. Hier ist alles grüner, die Berge sind hügeliger, die Häuser aus Holz, die Sprache wieder Deutsch. Und Chur rückt immer näher.


Zweittext:  

Mit GPS in die Berge

Biken fast ohne Karte - immer mehr Bike-Touren in Graubünden werden mit Navigationssystem angeboten

Wer seine Ferien in Lenzerheide mit Biken verbringen will, hat es einfach: Er sucht sich im Tourismusbüro oder Internet eine Tour aus, lädt sie für wenige Franken auf sein - oder das gemietete - GPS-Gerät und fährt los. GPS, kurz für Global Positioning System, ist Zukunftsmusik für den Biketourismus: Das Gerät ist nicht viel grösser als ein Handy, wird am Lenker befestigt und zeigt dem Biker via Satelliten Standort und Fahrtroute an - er muss einzig der roten, einprogrammierten Linie nachfahren. Regelmässiges Halten und Kartenlesen bei jeder Kreuzung gehört somit der Vergangenheit an, der Biker kann wortwörtlich «seiner Nase» nach fahren.

GPS ist im Grunde das Satelliten-Navigationssystem des US-Verteidigungsdepartements. 28 Satelliten kreisen um die Erde und senden Informationssignale aus. Das GPS-Gerät empfängt diese und errechnet so seine Standortkoordinaten aus - bei gutem Empfang bis auf 3 Meter genau. Was für Biker von Vorteil ist: Der virtuelle Führer berechnet auch zurückgelegte und noch zu bewältigende Distanz, Höhenmeter und Geschwindigkeit.

Der virtuelle Führer

Statt selber Touren zu planen und auf gut Glück abzufahren, bietet sich GPS also gerade für den ortsfremden Biketouristen an. Lenzerheide bietet insgesamt 20 Touren an, von einfach bis schwierig, von leicht bis anstrengend. Ausführliche Angaben zum Schwierigkeitsgrad der Route, Aussichtspunkten und Wegbeschaffenheit wird in einem handlichen Führer mitgeliefert. GPS-Touren werden auch in Savognin und im Münstertal angeboten, in anderen Bündner Ferienorten wird das Angebot aufgebaut. GPS-Touren sind auch im Internet herunterladbar, Vorsicht ist jedoch geboten bei Anbietern, die ihre Tourenvorschläge nicht selber abgefahren sind.

«GPS ersetzt die Karte nicht»

So einfach das System ist - es darf nicht überschätzt werden, sonst steht man bald ratlos an der nächsten Kreuzung. «Wer GPS benutzt, muss wissen, was es kann und was es nicht kann», sagt «Bike-Explorer» Gerd Schierle, der seit 15 Jahren Biketouren recherchiert und diese nun auch als GPS-Touren anbietet. «Wenn es regnet, hat man im Wald keinen Empfang», sagt er. Schlecht sei der Satellitenempfang auch in Schluchten oder an Hängen mit steiler Neigung, «da ist man schnell einmal um 30 Meter verschoben». Nicht zu vergessen sei auch ein möglicher technischer Defekt oder ganz einfach leere Batterien. «GPS wird immer nur ein Zusatzhilfsmittel sein, die Karte ersetzt es nicht», sagt der ehemalige Profirennradfahrer und -biker. Er sieht denn auch eine Gefahr, wenn unerfahrene Touristen per GPS durch Berge und Wälder kurven. Denn wenn das Gerät versagt, können sie froh sein, wenn sie den Weg zurück wiederfinden.

Infos für Biker

Bike-Touren: www.graubuendenferien.ch; Biken o. Gepäck: engadinferien.ch, daroserheide.ch; Gourmet-Tour: bike-gourmet-tour.ch; rad-bike-arena.com; Nationalpark-Bike-Tour/Wellness-Tour: scuol.ch.

Bike-Führer: bike-explorer.ch (Graubünden, Top of Graubünden, Mittelbünden, Unterengadin); Veloland Schweiz (Band 6); MTB-Bikeführer von Vital Eggenberger; Cycline MTB-Guide Engadin.

Bike-Karten: graubuendenferien.ch, biketrailmap.ch.

GPS-Touren: bikerheide.ch, bike-explorer.ch. Miete GPS: 25 Franken.

Bike-Hotels: Mit Bikekeller, Werkstatt, Bikernahrung, Wäscheservice: bikehotels.ch, Lenzerheide: bikerheide.ch, Scuol: bellaval-scuol.ch, Pontresina: sporthotel.ch.

Bike-School: frischibikeschool.ch

Bike-Park: In Samedan und Scuol.

Bike-Events: Swisspower Cup, Samedan, 20.-21. Aug.; Nationalpark Bike-Marathon, Scuol, 15. Aug.

Bike-Transport: Tageskarte RhB: 15/10 Franken (o./m. Halbtax).

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage erschien am 11. Juli 2005 im "Bund". 

 

Wenn Amors Pfeil durchs Netz schiesst...
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. . . trifft er nur gelegentlich - wie im richtigen Leben auch: Partnersuche via Internet boomt, beglückt und bricht einsame Herzen

Unzählige Singles suchen im Internet die grosse Liebe. Ob sie sie auch finden, hängt jedoch nach wie vor vom Zufall ab. Yuly und Andreas Kohli haben sich im Netz gefunden. Claudia Meyer zieht ernüchtert Bilanz.

Es begann am 26. Juli 2001. Andreas Kohli, wohnhaft in Niederwangen und seit einem halben Jahr Single, surfte im Internet, hielt Ausschau nach einer Partnerin. Es war sein 30. Geburtstag. Auf amigos.com stiess er auf eine «bezaubernde» Frau mit dunkelbraunen Augen und sanft gewelltem Haar. Er klickte ihr Lächeln an. Profil: Kolumbianerin, Verwaltungsangestellte und - genau wie er - am 26. Juli 1971 geboren. Er schrieb ihr ein Mail und gratulierte zum Geburtstag. Drei Monate später, im Flughafen von Bogotà, gab Andreas Yuly den ersten scheuen Kuss auf die Wange. Dann ging alles schnell.

«Ich sehnte mich nach Kolumbien, das ich vom Reisen gut kannte. Da dachte ich: Wenn ich schon nicht gehen kann, suche ich mir eben eine Bekanntschaft über Internet», erzählt Andreas. Yuly arbeitete viel und ging selten aus - eine Freundin hatte sie deshalb überredet, ihr Profil ins Internet zu stellen. Sie wurde mit Mails überschwemmt, doch es ergab sich nichts - bis jenes von Andreas kam. «Ich antwortete ihm, obwohl sein Foto schlecht war», erzählt sie und lacht. Sie sitzt auf dem sonnigen Balkon der Wohnung in Niederwangen, in die sie vor knapp vier Jahren - nur gerade 12 Tage nach dem ersten Treffen in Bogotà - mit dem ihr noch fremden und doch so nahen Mann gezogen war. Dem ersten Mail folgten täglich weitere, sie schickten sich Fotos, erzählten von Freunden und Familie. «Wir merkten schnell, dass da mehr war», sagt Yuly und sieht Andreas strahlend an. Wenn die beiden ihre Geschichte erzählen, so ist es, als erzählten sie ein Märchen. Etwas, das sich viele wünschen, aber nicht finden. Etwas, das viele nicht für möglich halten, aber trotzdem suchen: Die Liebe über Internet.

Der Boom der (virtuellen) Liebe

Die Partnersuche via Internet boomt, das Angebot für einsame Singles wird immer grösser. Es gibt auch Seiten für Teenies, solche für Betagte, für HIV-Positive, für Homosexuelle, für Leute, die nicht Liebe, sondern One-night-stands oder nur Freundschaften suchen. Laut Schätzungen der Anbieter besuchen täglich rund 200 000 Schweizer und Schweizerinnen Single-Börsen im Internet. Seit 2002 verdreifachten sich die Benutzerzahlen des Gratisportals singles.ch auf 30 000, Durchschnittsalter ist 34. Ähnliche Erfolge verzeichnen auch kostenpflichtige Anbieter wie swissfriends.ch.

Während die Hemmschwelle, sich im Internet den geeigneten Partner zu suchen, sinkt, steigt die Bereitschaft, mit der (virtuellen) Liebe zu spielen. Besonders Männer - sie machen drei Viertel der Anzeigen auf singles.ch aus - nutzten die Partnerbörsen oft aus, sagt Daniel Hauri, der singles.ch vor fünf Jahren gegründet hat: «Für viele Männer ist das Portal wie ein Weihnachtsbaum - sie wollen so viele Päckli wie möglich auspacken.» Auch «Spinner», die den Frauen unanständige Mails zuschickten, seien ein Problem: «Ein einziger Mann kann so hundert Frauen vom Netz vertreiben.»

Das Spiel mit der Liebe

«Viele Männer sehen das Ganze nur als Spiel und wollen gar keine feste Beziehung eingehen», sagt auch Claudia Meyer (Name geändert) aus Münsingen. Die Internetportale seien zwar eine gute Sache, denn man lerne schnell viele Leute kennen. «Vielleicht zu schnell», sagt sie. Ihr sei die Lust, die Liebe im Internet zu suchen, jedenfalls vergangen. Ein halbes Jahr lang hat sich die 27-Jährige nach der Auflösung ihrer langjährigen Beziehung auf Partnerbörsen registriert. Sie hatte immer wieder Dates, mit dem einen oder anderen Mann kam es zum Techtelmechtel. Es klappte jedoch nicht: «Entweder waren die Männer nicht mein Typ oder sie nahmen die Sache nicht ernst», sagt die Sachbearbeiterin. Die Erwartungen seien grösser als bei einem normalen Rendez-vous, «denn hier ist es beiden klar, worum es geht». Nach mehreren Enttäuschungen änderte Meyer die Strategie: Sie suche nun nach Freundschaften. Vielleicht lerne sie in einem neuen Freundeskreis eher einen Partner kennen als über die Suchkriterien im Internet. Denn: «Ich suchte Männer zwischen 25 und 35 Jahren. Vielleicht war der Richtige aber 36.»

Liebe lasse sich nicht über Datenbank-Kriterien steuern, sagt auch Jörg Eugster von swissfriends. ch, der grössten Dating-Seite der Schweiz. Trotzdem fänden viele Paare via Internet zueinander: Laut eigener Umfrage unter Swissfriends-Benutzern und Benutzerinnen waren es seit 2002 über 10 000 Paare, 800 haben geheiratet «und 547 Babys wurden dank Swissfriends geboren».

Die Tücke der Liebe

Auch bei Yuly und Andreas Kohli begann die Liebe mit dem virtuellen Spiel «Der gefällt mir, dieser nicht». Doch als Amors Pfeil am 26. Juli 2001 durchs Netz schoss, hat er die zwei getroffen. Für viele andere ging die Routinesuche am Computer mit den oft frustrierenden Blinddates weiter. Denn die Liebe ist tückisch. Auch im Internet.

[i] Die Liebe im Internet

findet sich auf folgenden Seiten (Liste unvollständig): singles.ch, swissfriends.ch, parship.ch, friendscout24.ch, partnerwinner.ch

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 18. Juni 2005 im "Bund".​

Schönheitsputzete und Schmusestunde
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Tierisches Aufwachen an der BEA

Putzen, füttern, striegeln, streicheln - auf dem BEA-Gelände geht der Tag schon lange vor den ersten Besuchern los. Kühe werden gemolken, Rennschweine auf Trab gehalten - nur die Fohlen bleiben liegen.

Lilian, von edler Rasse - «Red Holstein», steht auf der Tafel über ihr -, macht grosse Augen, dreht den Kopf und schaut im BEA-Zelt umher, blinzelt und schnuppert am Stroh, in welches sie weich gebettet liegt. Gleichgültig schaut sie zu ihrer Nachbarin hinüber - es ist eine Simmentaler Fleckviehkuh - und gibt keinen Laut von sich. Es ist noch früh, die BEA-Hallen sind fast menschenleer, doch Lilian ist schon gemolken, gewaschen und gestriegelt, ihr Bauch ist gefüllt, das Stroh gewechselt. Lilian ist eine gemütliche Kuh. Und gemütliche Kühe kauen auch gemütlich vor sich hin, wenn sie herausgeputzt mit rund hundert Hinterwäldler Chälbli, Eringer Kampfkühen und Charolais-Rindern in einer Ausstellungshalle liegen, in Auslaufboxen oder, wie Lilian, schön in einer Reihe.

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Ganz so gemütlich nimmt es die Stallmannschaft zwei Stunden vor Türöffnung der BEA nicht, doch auch sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Gemächlich führen die Landwirte Neptun, Blümchen und Coletta nach draussen, duschen und schrubben sie, bis sie dampfen, während der Tierarzt seine Runden macht. Punkt 9 Uhr müssen die Tiere bereit sein für den Ansturm tierliebender Städter, fachsimpelnder Landwirte und kreischender Kinder, doch noch ist es still, ja fast bedächtig still in den Hallen. Nur aus der Ecke der Jungzüchter trällert leichte Popmusik.

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Die Musik sei zur Unterhaltung, sagt Adrian von Känel aus Aeschiried, während er das Melkgeschirr abspült. Und für die Kühe sei sie ein Signal, «dass es losgeht». Bereits um 4 Uhr werden die Tiere gemolken, damit sie um 16 Uhr für das grosse Schaumelken bereit sind. Das mache ihm nichts aus, sagt der 20-jährige von Känel - schliesslich sei es eine grosse Ehre, ja gar der Bubentraum eines jeden Landwirts, einmal BEA-Melker zu sein. Nicht nur Melken und Ausmisten - auch Streicheln gehöre zur morgendlichen Tätigkeit, sagt Tabea Kobel, denn «auch Kühe brauchen Zuneigung». Einige seien richtige «Hätschelis», sagt die junge Landwirtin, manche Tiere stellten sich ihr jeweils gar in den Weg, damit sie sie «chräbele».

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In der Pferdehalle ist der Betrieb lebhafter, es wird gewiehert und geschnaubt - nur die Fohlen liegen noch schläfrig im Stroh. Nicht so Darkys Reckless: Das schwarze «Füli» tollt sich übermütig aus - es werde mit jedem BEA-Tag frecher, sagt seine Besitzerin. Ein Fohlen leckt die letzten Flocken aus dem Futtertrog, während nebenan Flamenco wütend schnaubt: Tarifa, «seine» trächtige Stute, wurde kurz aus ihrer Box entführt, damit diese gereinigt werden kann. Das BEA-Gelände erwacht langsam, auch wenn die Wege zwischen den Hallen noch leer sind. Aussteller, Züchter und Brezelbäcker putzen ihre Stände, die Rennschweine werden auf Trab gehalten, und auch die wolligen Lamas stellen sich allmählich auf ihre Beine und knabbern am saftigen Gras.

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Die Uhr schlägt neun, und schon kommen Familien, ältere Ehepaare, pubertierende Jugendliche, Landwirte in Helly-Hansen-Jacken. Kinder mit roten Backen drängeln zu den Berner Sennenhunden, streicheln die Geissen, quetschen sich zu den rosaroten «Säuli» und kraulen sie hinter den Ohren, langen durch die Gitterstäbe zu den «Fülis», streicheln die Hasen im Gehege. Und als um 10 Uhr das Säulirennen losgeht, wird um freie Plätze gekämpft. Draussen hat sich das Areal gefüllt, das Riesenrad dreht seine Runden, es riecht nach Bratwurst und Magenbrot. Eine Hexe krächzt aus einem Lebkuchenstand und ein Werbe-Gemüseschnetzler schnetzelt Zwiebeln und Karotten. Hunderte Besucher warten am Eingang, drängeln und drücken.

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Lilian zerkaut indes ein neues Büschel Heu. Sie lässt sich mustern und bewundern, macht grosse Augen, kaut und blinzelt. Gleichgültiger als je zuvor.

Text: Manuela Ryter

Dieses Feature erschien am 6. Mai 2005 im "Bund".​

Ski fahren auf Wolke 7
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13 Sehbehinderte sind mit dem Skikurs der Blindenskischule Frutigen auf der Piste

Sie fahren mal schnell und mal vorsichtig, geniessen den Wind in den Haaren und die Sonne auf dem Gesicht - einzig die Berge können sie nicht sehen. 13 Sehbehinderte aus der ganzen Schweiz fahren bis am Freitag mit der Blindenskischule Frutigen Ski - ein jeder im Team mit seinem Skilehrer.

Mit Sonnenbrille und roter Mütze steht Sabine Reist auf der Piste und fährt langsam los, ihre Skilehrerin Katrin Ramu dicht hinterher. Es ist noch früh, die Sonne wirft die ersten Strahlen in die verschneite Berglandschaft auf der Elsigenalp. Synchron fahren die beiden in grossen Bögen die Piste hinunter, Ramu wirft alle paar Momente einen kontrollierenden Blick nach hinten. Der Schnee knirscht laut unter den Skiern. Unten angekommen, lässt sich Sabine in den Schnee fallen. Sie lacht und geniesst die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Über der Skijacke trägt sie eine Weste mit der Aufschrift «Sehbehindert». Sabine ist fast blind - nur mit dem linken Auge kann sie Umrisse erkennen. Aber das bringe ihr beim Skifahren nichts.

Skilehrer und Blinde im Team

Ihre eigenen Augen können die 13 Sehbehinderten, die seit Freitag am Skikurs der Blindenskischule Frutigen teilnehmen, nicht oder kaum gebrauchen. Umso mehr sind sie auf jene ihrer Skilehrer angewiesen. Zu zweit fahren sie die Piste hinunter, mal schnell und mal vorsichtig, wie alle anderen auch, - aber eben im Team, mit nur einem Paar sehenden Augen.

Die Vertrautheit unter den Teilnehmern und Skilehrern ist gross, die Freude offensichtlich: «Es ist auch für uns eine Bereicherung, mit sehbehinderten Menschen zusammenzuarbeiten», sagt Urs Ramu, der die Blindenskischule Frutigen leitet. Er hat Erfahrung mit blinden Gästen: 1988 gründete er die Blindenschule mit anderen Skilehrern - das Know-how erlernten sie von Blindenskilehrern aus St. Moritz. Heute geben sie 320 Halbtageslektionen pro Jahr. «Das ist nur möglich dank einem Fonds der Skischule und dem Entgegenkommen der Bahnen - auf der Elsigen- und Engstligenalp sowie in Aeschi fahren die Blinden gratis.»

Schneller als mit Blindenhund

Blind Ski zu fahren ist für Sehende unvorstellbar: Mit Geschwindigkeit ins Schwarze zu brettern und eine Piste hinunterzukurven, deren Hangneigung, Buckel, Eisschichten und Schanzen man nicht sieht, einzig der Stimme des Skilehrers vertrauend? Schon beim kurzen Selbstversuch verliert man sofort Orientierung und Gleichgewicht, und die Skier verkanten im harten Schnee.

Für sie sei das ganz normal, sagt Sabine Reist. Sie sei nun schon zum vierten Mal mit dabei: «Ich stelle mir das Gelände - und auch die Bergwelt - dank den Beschreibungen vor, wie auf einem Foto», erklärt sie. Sie liebe die Geschwindigkeit, mit der sie die Pisten hinunterflitzen könne, sagt die 23-jährige KV-Angestellte aus Zuchwil. Sie geniesse es, einmal schneller unterwegs zu sein, als mit ihrem Blindenhund, und den Wind im Gesicht zu spüren. Angst habe sie dabei keine - Vertrauen in andere gehöre zu ihrem Alltag.

«3-2-1-Abbügeln»

Über einen Funk im Ohr erhält Sabine Reist die Anweisungen ihrer Skilehrerin: Auf das Kommando «3-2-1-Abbügeln» lässt sie den Bügel los, und als Katrin Ramu ihr sagt, sie könne «nach elf Uhr abfahren», fährt sie los, ein wenig links gerichtet. Wie beim Essen werden die verschiedenen Richtungen auch beim Blindenskifahren nach dem Zifferblatt angegeben: Zwölf Uhr ist dort, wo die Skier hinzeigen, neun Uhr ist 90 Grad links davon, drei Uhr rechts.

Sabine Reist fährt ohne Zögern los, Katrin Ramu dicht hinter ihr her: «Liiiinks, rechts, liiiinks, rechts», spricht diese in ihr Mikrophon. Je länger ein Wort ausgesprochen wird, desto grösser soll der Bogen werden. In leichter Rücklage erspürt sie mit den Skiern den Schnee, fährt die Kurven aus und carvt sogar - auf Kommando. «Blinde haben beim Skifahren eine andere Körperhaltung, denn sie agieren nicht wie Sehende, sondern sie reagieren», sagt Katrin Ramu. Der Kontakt dürfe deshalb nie abbrechen. Das sei auch für sie eine grosse Herausforderung: «Man muss den Gast auf alle Seiten abschirmen und ihm gleichzeitig exakte Anweisungen geben», sagt sie, das erfordere extreme Konzentration.

Dem schwarzen Strich hinterher

Sehbehinderte, die genügend sehen können, fahren dem Skilehrer nicht voraus, sondern hinterher. Roberta Angelini aus Basel sieht zwar nicht, ob nun Piste, Tiefschnee oder Eis vor ihr liegen, aber sie sieht einen schwarzen Strich, dem sie hinterherfährt - es ist ihr Skilehrer. Es gehe ihr jedoch nicht nur ums Skifahren, sagt die aufgestellte Italienerin mit den pechschwarzen Augen: Sie mache auch gerne mal eine Pause zum Plaudern oder geniesse die Sonne.

Fasziniert vom Skifahren sind sie alle: Die Tessinerin Marija Barsic erzählt, sie spüre beim Fahren ein riesiges Freiheitsgefühl. Für die Bernerin Doris Stalder ist Ski fahren nicht Freiheit - schon eher hartes Training: «In Bewegung kann man nicht alles ertasten - was unter meinen Skiern passiert, muss ich spüren», sagt sie. Sie gehe jeweils auch in die Tourenwoche und das Hochgebirgslager, die wie dieser Skikurs vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) ausgeschrieben und mitfinanziert werden. Durch dieses Training werde sie auch in der Stadt viel sicherer.

Und sie geniesse es, sich einfach mal führen lassen zu können, ohne Angst, irgendwo anzustossen: «Hier kann ich ausklinken. Die vielen Schwierigkeiten, die sich im Alltag tagtäglich stellen, gibt es hier nicht - es ist wie auf Wolke 7», schwärmt die medizinische Masseurin. Sie sei sehr dankbar, dass sich Sehende so viel Mühe geben, um ihnen dieses Erlebnis zu ermöglichen - «wir sind wie eine grosse Familie».

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 20. Januar 2005 im "Bund". ​

«Nervös wie vor der Hochzeit»

Rania Bahnan Büechis erste Sitzung im Berner Stadtrat.​

Auf der Treppe des Berner Rathauses wartet Rania Bahnan Büechi mitten im stolzen, um fünf Mitglieder gewachsenen GFL-Stadtratsgrüppchen. Etwas verloren steht sie da, elegant gekleidet in Jupe und Bluse, und lächelt verkrampft in die Kameras. Wie die anderen drei «Neuen» hält sie das grüne Pflänzchen, ein Begrüssungsgeschenk ihrer Fraktion, fest in ihren Händen.

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Sie sei unglaublich nervös, sagt sie, «wie vor meiner Hochzeit». Rania Bahnan Büechi lacht beim Reden und schaut sich aufgeregt um. Der Platz vor dem Rathaus füllt sich allmählich, die Politiker trudeln ein und begrüssen sich zur ersten Sitzung des neu besetzten Stadtrats. Sie kenne kaum jemand von ihnen, sagt Bahnan. Kurz zuvor habe sie bei einer Einführung die 21 weiteren neuen Stadträte und Stadträtinnen kennen gelernt. Sie sei etwas zu spät gekommen, in der Aufregung an den falschen Ort gegangen. Sie sei heute sowieso etwas zerstreut - den Sitzplan habe sie vergessen, das Handy auch.

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Bisher habe sie immer gedacht, es gehe ja erst im Januar los, jetzt aber gelte es ernst. Bahnan betritt das Rathaus, in der einen Hand die violette Jacke, in der anderen das Pflänzchen, und schaut sich etwas unsicher in der riesigen Eingangshalle um. «Schön ist es hier», sagt sie, als sie die Treppe hinaufsteigt und in die Wandelhalle mit den roten Sesseln kommt. Ein Hauch von Stolz gleitet über ihr Gesicht.

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«Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Politikerin werde», sagt Bahnan. Mit ihrer Wahl habe niemand gerechnet, weder sie noch die Partei. Bis im Frühling 2004 war die Palästinenserin, die in Libanon aufgewachsen ist, in den USA studiert hat und 1992 mit ihrem Mann - einem Appenzeller - nach Bern kam, parteilos. Dann wurde sie von der GFL für eine Kandidatur angefragt. «Die Partei wollte Migrantinnen ein Gesicht geben», sagt sie.

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Bahnan wurde überrumpelt. Heute freut sich die 41-Jährige jedoch, dass es so gekommen ist: «Es ist eine grosse Herausforderung, aber genau das mag ich.» Zwei Fraktionssitzungen hat sie schon hinter sich - die Themen «Wie halte ich eine Rede» oder «Wie mache ich ein Postulat» stehen noch an. Bahnan geht langsam in den Ratssaal, sucht ihre Parteikollegen und setzt sich an ihren Platz neben GFL-Fraktionspräsident Ueli Stückelberger. Das grüne Pflänzchen stellt sie vor sich aufs Pult. «Ich hoffe, dass es in den vier Jahren wachsen wird.»

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Als Politikerin kennt man Bahnan in Bern noch nicht - als Expertin in Migrationsfragen hat sie sich jedoch einen Namen gemacht: In einem IKRK-Interventionszentrum fand sie ihren ersten Job in der Schweiz, dann wechselte sie zum Migrantinnenprojekt Wisdonna des Christlichen Friedensdienstes. Sie gründete die Fachstelle für Medizinische Hilfe für illegalisierte Frauen «MeBif», gibt neben ihrer Arbeit als Psychotherapeutin Kurse zum Thema Migration, ist in Vereinen für palästinensische Migranten aktiv, und bis vor kurzem sass sie in der Fachkommission für Integration der Stadt Bern.

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«Migration und die Sans-papiers werden auch im Stadtrat meine Anliegen sein», sagt Bahnan. Sie habe nicht die Illusion, als Stadträtin die Welt zu verändern, «aber es wäre schön, in Bern etwas zu bewegen». Bei ihrer Arbeit mit den Migrantinnen sei sie immer wieder an «strukturelle Barrieren» gestossen, das habe ihr Bedürfnis, etwas zu verändern, geweckt.

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Nun sitzt Rania Bahnan Büechi aber noch ruhig an ihrem Pult und hört gespannt der Begrüssungsrede des neu gewählten Stadtratspräsidenten Philippe Müller zu. Und als die Kommissionen gewählt werden, streckt sie mit den anderen ihre Hand hoch. Hilfsbereit deckt Stückelberger seine «Neuen» mit Erklärungen ein.

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Als Migrantin Berner Politikerin zu sein, darauf ist Rania Bahnan Büechi stolz. Die Kandidatur habe sie jedoch viel Überwindung gekostet, «ich war - wie die meisten Migrantinnen - zu scheu», sagt sie. Die Hemmschwelle, in einem fremden Land politisch aktiv zu werden, sei riesig. Bern sei heute ihre Heimat. Politik sei eine Art, diese Heimat kennen zu lernen. «Ich will dort, wo ich wohne, auch partizipieren.» Bisher habe sie dazu nie Gelegenheit gehabt, denn: Seit ihrer Geburt lebte sie als Migrantin im Ausland - in Palästina war sie noch nie.

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Früh ist die erste Stadtratssitzung beendet. Beim Apéro plaudert Bahnan gelöst und ruhig mit «bekannten Gesichtern» - die meisten aus der SP. Es sei schon eine andere Welt, sagt sie und lacht - sie fühle sich jedoch wohler, als sie gedacht habe. Sie lasse nun alles auf sich zukommen. Und dann werde auch sie etwas dazu beitragen, «dass ein neuer Wind aufkommt». Denn in Sachen Migration könne Bern diesen gebrauchen.

Text: Manuela Ryter
Dieses Feature erschien am 14. Januar 2005 im "Bund".​
Die Generation Erasmus
Kasten: 

Schweiz «stille Partnerin»

Das EU-Programm Erasmus gibt es seit 1987. Es ermöglicht Studentinnen und Studenten, ein bis zwei Semester in einem anderen EU-Land zu studieren. Die EU will damit die «europäische Dimension» in die akademische Welt einbringen und die Hochschul-Zusammenarbeit verbessern. 1995 wurde Erasmus in das EU-Bildungsprogramm Sokrates integriert. Die Schweiz nimmt seit 1992 am Programm teil. 1995 kündigte die EU der Schweiz jedoch die Teilnahme aufgrund des EWR-Neins von 1992. Seither unterstützt der Bund die «stille Partnerschaft» mit 6,2 Millionen Franken pro Jahr. Mit den bilateralen Verhandlungen II wird ab 2007 wieder eine offizielle Teilnahme erwartet. 

Texte: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 13. Dezember 2004 im "Bund".​

Stille, Sturm und der letzte Zopf
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Zibelemärit am Morgen, am Mittag und am Abend: Das Berner Konfetti-Glühwein-Zwiebelkuchenfest, beobachtet auf dem Bärenplatz.

Bedächtig und still ist es um halb fünf Uhr früh auf dem Bärenplatz. Die Zwiebeln liegen bereit, Zwiebelzöpfe, Zwiebelkörbchen, Zwiebelketten, Zwiebeligel. Die Erzeugnisse wochenlanger Arbeit flinker und kräftiger Hände. Der eine oder andere Zopf wird zurechtgelegt, fröstelnd stehen die Verkäuferinnen in der dunklen Nacht hinter dem Stand an der Ecke zur Spitalgasse und warten auf den grossen Ansturm.

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Händereibend werfen sie sich kurze Blicke zu, schenken sich aus der Thermosflasche heissen Kaffee ein und beobachten durch die aufgehängten Zwiebeln hindurch das leise Treiben auf dem Platz. Ein Stand säumt den anderen: Hier werden Kisten voller Zwiebeln unter den Ständen verstaut, dort die farbigen Zuckerzibeli-Ketten aufgetürmt. Die echten schmecken immer noch nach Pfefferminze.

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Erste Besucher tauchen auf, sie gucken sich die Zwiebeln flüchtig an und spazieren am Stand vorbei. Von schräg gegenüber duftet es nach heissem Glühwein und Chnoblibrot. Das passende Frühstück am Zibelemärit, wie jedes Jahr am vierten Montag im November. Links stapelt ein Mann Kisten - sie sind vollgepackt mit Gummihämmern und Konfettisäcklein, säuberlich abgepackt à je hundert Gramm. Bern schläft noch. Doch nicht mehr lange.

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Die fünfte Stunde hat noch nicht geschlagen, als sich die Strassen füllen. Immer mehr verschlafene Gesichter und leuchtende Kinderaugen sind zu sehen. Aus den Individuen wird eine Menschenmasse. Man schaut und staunt und zieht vorbei. Mit jedem einfahrenden Zug und Bus wird es enger und festlicher in den Berner Gassen. Der Lärmpegel steigt an, der Geruch von Glühwein und Knoblauchbrot vermischt sich mit dem von Käsekuchen und Marroni.

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Im Käfigturm schlägt es sechs, doch das Glockengeläut geht unter im Stimmengewirr, der Zibelemärit ist voll im Gang. Nur die gewohnte Kälte fehlt. Glühwein wird trotzdem reichlich getrunken. Und es wird gelacht. Wann darf man schon so viele Streiche spielen wie am Zibelemärit? Wie Piraten sehen die Konfettischützen aus in ihren wollenen Mützen, tief in die Gesichter gezogen. Die meisten schiessen aus dem Hinterhalt und zielen vorzugsweise auf offene Münder. Einige sind mit orangen Plastikpistolen ausgerüstet, oder sie attackieren mit quietschenden Hämmern. Jeder Volltreffer wird mit Kreischen oder Johlen, entschuldigendem Lächeln oder spöttischem Gegröle quittiert.

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Der Morgen graut und das silbrig-rot-blau-gelbe Konfettigemisch bedeckt wie frisch gefallener Schnee den Boden. Die müden Gesichter mit den Glühwein-geröteten Backen gehen zur Arbeit. Jetzt kommt die Stunde der Rentnerinnen und der Car-Touristen. Aus der Romandie, aus Deutschland und aus Frankreich kämen sie, sagt eine Zwiebelverkäuferin. Sie seien sehr interessiert am Zibelemärit, an dessen Tradition und Handwerk. Die Zwiebelzöpfe gehen weg wie warme Semmeln. Der kleine Zwiebeligel kostet 3.50, der grösste Zopf 70 Franken. Einen grossen habe sie schon verkauft, sagt die Verkäuferin. In ihren Haaren hängen silbrige Konfetti.

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Mit fortschreitender Zeit verdichtet sich auch die Menge auf dem Bärenplatz wieder. Herausgeputzte Jungs stehen cool herum, Kinder geniessen ihre Konfetti schmeissenden Väter und filmende Japaner dokumentieren das Schweizervolk. Hinter der Verkäuferin am Stand neben dem Vatter spielt ein Strassenmusiker lässig an die Wand gelehnt Akkordeon und schaut dem wilden Treiben zu, als gehöre er nicht in diese Welt. Seine Musik vermischt sich mit dem poppigen Sound von rechts und den Panflötentönen von links. Mit den Farben und Gerüchen. Die Verkäuferin betrachtet die farbigen Zwiebelzöpfe auf dem Tisch. Es sind die letzten.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 23. November 2004 im "Bund". ​

Psychiatrie oder Antibiotika
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Punkto Ausmass und Behandlung der «Zeckenkrankheit» Borreliose scheiden sich die Geister

Forscher und Mediziner streiten über Diagnose und Behandlung der von Zecken übertragenen Krankheit Lyme-Borreliose - und verunsichern damit Patienten: Sind deren unerklärliche Symptome, die von Müdigkeit bis zu Lähmungserscheinungen reichen, auf die «Zeckenkrankheit» zurückzuführen?

Es war im März 1998, als Frau S.* zum ersten Mal wegen unerklärlicher Gelenkschmerzen zum Arzt ging. Diagnose: eine bakterielle Infektion durch Streptokokken. Doch die Symptome blieben trotz Behandlung: Ständig hatte sie leichtes Fieber, Gelenk- und Muskelschmerzen, Augenbrennen, Halsweh, Kopfweh oder Konzentrationsstörungen - und niemand wusste recht warum. Im Dezember machte der Hausarzt Blutuntersuchungen. Aber auch sie brachten keine neuen Erkenntnisse. Die Krankheit wurde mit jedem Tag schlimmer. Im April 1999 wurde die selbständige Biologin - bereits seit Monaten bis zu 50 Prozent arbeitsunfähig - ins Spital eingewiesen. «Die Laborwerte ergaben jedoch auch nichts. Die Ärzte sagten, ich sei in den Wechseljahren. Aber ich war knapp 44. Man zweifelte an meiner psychischen Gesundheit, das war der Tiefpunkt meiner Krankheitsgeschichte», sagt Frau S.

Durch Bekannte kam sie zu Laurence Meer, einer Ärztin in Flamatt, die zur «Zeckenkrankheit» Lyme-Borreliose forscht. Diese untersuchte die Blutproben, und im Februar 2000, zwei Jahre nach dem ersten Arztbesuch, kam die Diagnose: Lyme-Borreliose, eine bakterielle, von Zecken übertragene Infektion, bereits im chronischen Stadium (siehe Kasten rechts).

Streit unter Experten

Borreliose-Diagnosen sind der unspezifischen Symptome der Patienten wegen häufig nicht ganz eindeutig und deshalb umstritten. Universitätsmediziner glauben, dass es kaum chronische Borreliose-Patienten gibt. Zeckenspezialisten sehen das anders - punkto Behandlung sind jedoch auch sie untereinander zerstritten.

«Den Verdacht auf Borreliose hatte ich immer, denn ich hatte etliche Zeckenbisse», sagt Frau S. Die typische Wanderröte, einen kreisförmigen Ausschlag um die Stichstelle, hat die Biologin jedoch nie bemerkt. Und ein weiterer Bluttest sei nach dem ersten negativen nie zur Diskussion gestanden. Seither ist Frau S. bei Meer in einer Langzeit-Antibiotikabehandlung. Nun gehe es ihr besser, sagt sie.

Das könne nicht sein, sagt Norbert Satz, der in Zürich eine Praxis für «Zeckenkrankheiten» führt: «Chronische Patienten kann man nicht mit Antibiotika behandeln, da hilft nur Symptombekämpfung, zum Beispiel mit Schmerzmitteln», sagt er. Frau S. würde es seiner Meinung nach ohne Antibiotika genauso gut gehen. Und Stefan Zimmerli, Infektiologe am Inselspital in Bern, geht noch weiter: «Chronische Borreliose-Patienten sind höchst selten», sagt er. Die Diagnose werde von «so genannten» Spezialärzten viel zu häufig gestellt.

Krankheit nicht beweisbar

Ob zu häufig oder zu selten - die Krankengeschichten von chronischen Lyme-Borreliose-Patienten sind fast immer gleich: jahrelanges Leiden, eine Odyssee von Arzt zu Arzt, unterschiedliche Diagnosen und Therapien, verwirrte Betroffene. Denn ohne Wanderröte, die nur bei jedem Dritten auftritt, wird die Krankheit oft nicht oder zu spät erkannt, da der Zeckenbiss in den meisten Fällen nicht bemerkt wird.

Wenn die Infektion sofort behandelt wird, ist sie gut heilbar. Bereits nach mehreren Monaten werden jedoch sowohl Diagnose als auch Behandlung schwieriger: Die Symptome könnten auch andere Ursachen haben, und die Bakterien sind schlechter durch Antibiotika bekämpfbar. Ausserdem haben rund zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung Borrelien-Antikörper im Blut - die das Immunsystem zur Bekämpfung der Erreger produziert - und sind dennoch gesund. Ein positiver Bluttest ist somit kein Beweis für die Krankheit. «Eine Ja- oder Nein-Diagnose ist nicht möglich: Es braucht ein typisches Beschwerdebild, positive Laborwerte und einen Ausschluss aller anderen möglichen Krankheiten», sagt Borreliose-Arzt Norbert Satz.

Gerade die Einschätzung, ob chronische Schmerzen psychisch bedingt sind oder nicht, fällt jedoch von Arzt zu Arzt unterschiedlich aus. Psychiatrie oder Antibiotika - eine für den Patienten schwer wiegende Entscheidung, die nicht selten zu Problemen mit Versicherungen und Krankenkassen führt (siehe Text unten links).

Wie heikel die nicht beweisbare Diagnose und das somit nicht abschätzbare Ausmass der Borreliose ist, zeigt ein Blick ins Internet, Hauptinformationsquelle vieler Patienten: Weltweit gibt es etliche Selbsthilfegruppen und Organisationen, die vor der «Gefahr Borreliose» warnen, unzählige Websites mit Informationen und Foren. Die Kranken fühlen sich von den Ärzten im Stich gelassen.

Gefahr oder Bagatelle

«Die Lyme-Borreliose ist eine meist harmlose, problemlos behandelbare bakterielle Infektion, die nur in seltensten Fällen zu langen Krankheitsverläufen führt», sagt Infektiologe Stefan Zimmerli zur Haltung der Universitätsmediziner. Die Borreliose-Krankheit werde von Randgruppen «hochstilisiert und mit unbestimmten Symptomen in Zusammenhang gebracht, die nichts mit der Lyme-Borreliose zu tun haben - dies ist ein Trugschluss», so der Oberarzt. Wenn ein Patient nach einer Antibiotikatherapie Beschwerden habe, seien diese mit Ausnahme von ganz wenigen Fällen nicht auf ein Weiterbestehen der Infektion zurückzuführen - chronische Borreliose-Patienten würden somit kaum existieren.

Diese Aussage findet Norbert Satz «völlig daneben»: Chronische Fälle seien in der Schweiz ein sehr grosses Problem. «Wer dies nicht wahrhaben will, sitzt in einem Elfenbeinturm.» Seiner Meinung nach werden etwa zehn Prozent der 3000 bis 5000 Personen, die sich jährlich mit dem Bakterium infizieren, chronisch und zum Teil ernsthaft invalidisiert.

«Es fehlt Schlüsselstelle»

Laurence Meer, die zu Langzeitbehandlung und Zusatzinfekten forscht und publiziert, arbeitet zusammen mit der technischen Hochschule Biel an einem Programm zur Erfassung der Patienten. «Es fehlt eine Schlüsselstelle, wo Patienten über längere Sicht beobachtet werden - sie sind bei Hautärzten, Rheumatologen, Psychiatern oder Neurologen verzettelt», sagt Meer.

Auch bei den Testverfahren sieht sie Lücken: Entgegen der Meinung anderer Ärzte teilt sie die Ansicht, dass ein Bluttest trotz Krankheit negativ sein könne, da die Bakterien ihre Eiweissoberfläche laufend änderten, was die Antikörperbildung und damit den Nachweis erschwere. «Deshalb sollte der PCR-Test, der Teile der DNA nachweist, verbessert werden», so Meer. Es sei jedoch schwierig zu wissen, in welchem Gewebe das Erbgut am ehesten zu finden sei.

Doch auch an diesem Testverfahren scheiden sich die Geister. Und der Streit um die nicht sicher beweisbare Krankheit Lyme-Borreliose geht weiter.

* Name der Redaktion bekannt

Interview mit Hanspeter Zimmermann, Epidemiologe beim Bundesamt für Gesundheit BAG.

«Keine harmlose Krankheit»

«Bund»: Es herrschen grosse Meinungsverschiedenheiten zur Diagnose, Behandlung und zum Ausmass der von Zecken übertragenen Krankheit Borreliose. Wie schätzen Sie die Situation in der Schweiz ein?

Hanspeter Zimmermann: Das Ausmass der Borreliose-Krankheit ist nicht ganz klar. Man kann jedoch nicht sagen, es sei eine harmlose Krankheit: Sie ist weder einfach noch selten. Die Schwierigkeit liegt bei der Diagnosestellung: Ein einzelner Labortest reicht nicht aus, um sie klar zu bestimmen. Die Diagnose Borreliose wird von Teilen der Ärzteschaft zu häufig, von andern zu selten gestellt. Wir rechnen mit schätzungsweise 3000 Erkrankungsfällen pro Jahr. Aber der grösste Teil davon sind Patienten mit Erythema migrans, der Wanderröte, einer grundsätzlich harmlosen Krankheit. Die Schwierigkeit kommt bei den Patienten ohne Wanderröte, denn viele Leute haben Antikörper und hatten nie Borreliose-Symptome. Gemäss Spitalstatistik gibt es im Schnitt jährlich 200 bis 300 Spitaleinweisungen mit der Diagnose Borreliose.

Nimmt das BAG zum herrschenden Konflikt unter Medizinern und zwischen Ärzten und Patienten Stellung?

Nein, das BAG kann zu dem Konflikt nicht Stellung nehmen. Unsere Aufgabe ist es, die Krankheit zu überwachen: Wie häufig ist sie, bei wem und wo taucht sie auf? Wir machen Empfehlungen, wie Krankheiten verhütet werden können, aber wir mischen uns nicht in die Behandlung der Patienten ein.

Ist die Überwachung der Lyme-Borreliose beim BAG ein Thema?

Ja, die Lyme-Borreliose ist auch für uns ein Thema. In einer Arbeitsgruppe wird zurzeit überlegt, wie wir die Krankheit besser überwachen können. Wir wollen abschätzen können, was diese Krankheit in der Schweiz bedeutet, denn sie kann sehr schwer verlaufen. Bis im Jahr 2003 bestand obligatorische Meldepflicht. Die Ergebnisse sind jedoch nur von begrenzter Hilfe, da damit die schwereren Erkrankungen, wie etwa die neurologischen Erscheinungen, nicht erfasst werden konnten.

Die chronischen Borreliose-Fälle könnten mit verbesserten Testverfahren einfacher bestimmt werden. Unterstützt das BAG solche Forschungsprojekte?

Wir unterstützen primär Forschung im Bereich der Überwachung der Epidemiologie, dazu gehören in gewissen Fällen auch PCR-Untersuchungen. Im Falle der Borreliose ist dieses Testverfahren jedoch nicht das Mittel, um die Problematik aufzuarbeiten. Zur Erfassung der schweren Borreliose-Fälle müssen weitere Hilfsmittel angewendet werden, wie zum Beispiel ein mehrseitiger Fragebogen wie in den USA.

Konnten in der Schweiz gewisse Risikogebiete lokalisiert werden?

Die ganze Schweiz unterhalb von 1200 bis 1500 Metern über Meer ist Risikogebiet. Der Anteil der infizierten Zecken schwankt jedoch stark, auch lokal: von 5 bis 50 Prozent. Bisher konnte man jedoch keine speziellen Gebiete aussondern. Die geografische Lokalisation, also die Verteilung der Borreliose-Patienten, würde sicherlich auch in die neuen Untersuchungen kommen.

Kasten: ​

Kostenfrage: Unfall oder Krankheit?

Chronische Borreliose-Patienten sind teuer: Über Jahre hinweg sind Arzt- und Spitalbesuche, Medikamente und aufwändige Laboruntersuchungen nötig. Dazu kommt die häufige Erwerbsunfähigkeit und nicht selten sogar Invalidität. Grundsätzlich gilt ein Zeckenstich als Unfall - also muss die Unfallversicherung bezahlen. Bei Patienten mit Wanderröte ist der Fall klar. Schwieriger wird es jedoch bei chronischen Patienten, die sich an keinen Zeckenstich erinnern.

Hier erschweren die unklaren Diagnosemöglichkeiten und der Konflikt um das Ausmass der Krankheit (siehe Text oben) auch die rechtliche Beurteilung, wer für die hohen Kosten aufkommen muss: Kann der Arzt die Diagnose Borreliose glaubhaft beweisen, bezahlt die Unfallversicherung. Wird die Diagnose jedoch angezweifelt, bezahlt die Krankenkasse, wobei die Leistungen im Falle eines Unfalls viel grösser sind als bei Krankheit.

Streit bis vor den Richter

«Viele chronische Borreliose-Patienten stehen in ständigem Streit mit Versicherungen», sagt Borreliose-Ärztin Laurence Meer. Das Versicherungsdossier ihrer Patienten sei mindestens gleich dick wie das der Krankenberichte.

Für Beat Cartier, Facharzt für Arbeitsmedizin bei der Suva, ist der Fall klar: Chronische Borreliosen sind selten. «In unklaren Fällen wird die schulmedizinische Fachmeinung durch universitäre Gutachten eingeholt», sagt er. Diese stünden zum Teil im Widerspruch zu den Arztberichten der behandelnden Ärzte - auch solcher, die sich auf eine grosse Borreliose-Erfahrung beruften. In einigen Fällen pro Jahr ende der Streit vor dem Richter.

Wenn die Unfallversicherung den Fall ablehnt, bezahlt die Krankenkasse - teure und umstrittene Therapien kann sie jedoch ablehnen. Wie verschiedene Krankenkassen bestätigten, sind solche Problemfälle jedoch höchst selten. (mry)

«Zeckenkrankheiten»

Die durch Zecken übertragene Krankheit Lyme-Borreliose, die durch das 1983 vom Schweizer Willy Burgdorfer entdeckte Bakterium Borrelia burgdorferi hervorgerufen wird, verläuft in drei Stadien: Im Lokalstadium kann ein Hautausschlag, das so genannte Erythema migrans, auftreten. Erste Anzeichen sind zudem grippeähnliche Symptome. Antibiotika sind sehr wirksam. Im Akutstadium befallen die Bakterien die Organe, besonders Gelenke, Haut und Nervensystem. Im chronischen Stadium können bleibende Schäden auftreten wie Arthrose oder Lähmungen. Daneben können Müdigkeit, Kopf-, Nacken- und Muskelschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Depressionen und Rheuma auftreten. Die Vielzahl an Symptomen macht die Diagnose sehr schwierig. Die Borreliose darf nicht mit der FSME-Hirnhautentzündung, einer Vireninfektion, die ebenfalls von Zecken übertragen wird, verwechselt werden. FSME-Fälle sind seltener, aber es ist keine Behandlung möglich. Es existiert eine Impfung, die Bewohnern in Risikogebieten empfohlen wird.

Risikogebiete für Borreliose sind bisher kaum erforscht (siehe Interview). Im Schnitt ist jede dritte Zecke infiziert. Eine Impfung gibt es nicht. Die Gefahr, nach einem Zeckenstich an Borreliose zu erkranken, wird zurzeit an der Universität Neuenburg erforscht. Um Zeckenstiche zu vermeiden, soll man im Wald lange Kleidung tragen und danach den Körper absuchen. Zecken (ein bis sechs Millimeter gross) leben nicht auf Bäumen, sondern im Unterholz. 

Text: Manuela Ryter

​Diese Hintergrundseite erschien am 13. September im "Bund". 

Spiel im tanzenden Wasser
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DER NEUE BUNDESPLATZ 

Spiel im tanzenden Wasser

Entworfen wurde das Wasserspiel auf dem Bundesplatz aus Angst vor einem menschenleeren Platz. Nun wird es zum Publikumsliebling: Tagtäglich ziehen die Fontänen Scharen von Touristen und Einheimischen an - begeistert spielen sie im sprudelnden Wasser.

«Ob die Stadt dieses Mädchen extra für die Show engagiert hat?» fragt ein spanischer Tourist seine Freunde und beobachtet fasziniert den Solotanz eines braun gebrannten Mädchens in den rhythmisch in die Höhe sprudelnden Fontänen des neuen Bundesplatzes. Die Arme in der Luft, wie eine Ballerina, hüpft und springt es in einem türkisfarbenen Badeanzug durch die Wasserspritzer und geniesst sichtlich das kühle Nass und das staunende Publikum: Rund 200 Leute stehen um das Wasserspiel und schauen ihrem kindlich-sorglosen Tanzen zu. Manch einer wird sich in diesem Moment wünschen, ein Kind zu sein.

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Das 18-minütige Wasserspiel auf dem neuen Bundesplatz ist zu einem Spiel zwischen Zuschauern und Wasser geworden. Es spielt immer von 11 bis 23 Uhr, nur dienstags und samstags erst ab 14 Uhr, und wird jede halbe Stunde wiederholt. Die sprudelnden Fontänen folgen einer Choreografie und verändern sich laufend.

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Mit Sprüchen und auffordernden Blicken drängt die Spaniergruppe ihren Freund, Ivan aus Madrid, sich auch auf das nasse Feld zu wagen. Doch er lehnt den Vorschlag ab - er habe keine anderen Kleider dabei - und bleibt in der sommerlichen Hitze stehen. Reizen würde es ihn schon, gibt er zu. Auf jeden Fall sei dieser Platz phantastisch, er sei begeistert von der Schönheit dieser Stadt.

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Die Wasserfontänen sprudeln im Takt, mal schneller und höher, dann wieder langsamer und tiefer. Jetzt spritzt es hier, jetzt dort und jetzt aus allen Düsen gleichzeitig. Das Wasser schiesst direkt aus dem nassen Stein in die Höhe - «bis dört obe», sagt die vierjährige Anaïs, streckt die Arme und zeigt zum Dach der Kantonalbank. Mit der Körpergrösse verschieben sich die Dimensionen. Die Wassertropfen, so weit oben angelangt, glitzern in der Sonne und plätschern wieder zu Boden. Anaïs freuts und fragt die Mutter immer wieder: «Darf i no mal?», doch diese will gehen. «Jetzt muss ich jedes Mal, wenn ich in die Stadt komme, die Badesachen mitnehmen», sagt sie. Dieses Mal hätten es die Unterhosen getan - auch wenn einige Leute gemeckert hätten, dass dies eine Sauerei sei.

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Die Kleine im türkisfarbenen Badeanzug hüpft noch immer allein durch die Fontänen - keiner hat es gewagt, ihr die Schau zu stehlen. Andere Kinder, denen verboten wurde, nass zu werden, beobachten sie mit neidischem Blick. Doch auch ausserhalb der sprudelnden Fläche haben sie ihren Spass: Zwei japanische Knirpse wagen sich von aussen heran und kreischen vor Freude, sobald sie die Düsen berühren. Da sprudeln die Fontänen gleichmässiger. Der Vater nimmt die beiden an den Händen und rennt mit ihnen über den Platz, ohne dabei nass zu werden. Die Menschentraube lacht. Das Wasserspiel ist zu einem kollektiven Plausch geworden. Noch nie habe er solche Begeisterung für ein Projekt erlebt, sagt Paul Müller, Direktionsadjunkt der Direktion für Planung, Verkehr und Tiefbau der Stadt Bern. Der Platz rege die Emotionen der Menschen an.

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Diese Euphorie für den Platz hatten weder Politiker noch die Architekten erwartet: Das Wasserspiel wurde aus Angst vor einem menschenleeren Platz entworfen - um ihm Bewegung zu geben, hiess es. Sie wollten etwas Schlichtes, kein Denkmal - schliesslich sei das Bundeshaus Denkmal genug. Nun stehlen die Fontänen dem Bundeshaus die Schau.

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Jetzt wagt sich auch die Menge näher ran: Da rast einer mit dem Fahrrad, ein anderer mit dem Kinderwagen über den spritzenden Platz, durch Fontänen und die Schar kreischender Kinder in Unterhosen. Ein Junge steht laut lachend mit dem Fuss auf eine Düse, so dass sie seinem Vater ins Gesicht spritzt; ein anderer Knirps macht ein paar unbeholfene Schrittchen auf eine Fontäne zu und quietscht vor Freude - seine Grossmutter rennt ihm ängstlich hinterher und zieht ihn vom Wasser weg. Der Grossvater nimmts gelassen. «Wir sind extra wegen dem neuen Wasserspiel aus Freiburg gekommen», sagt er. Das Berner Wasserspiel wird zum beliebten Ausflugsziel.

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Fotoapparate und Videokameras werden gezückt; zaghaft stehen auch die Erwachsenen zwischen die Fontänen, lächeln fürs Foto und riskieren dafür einige Spritzer. Auch Ivan, der Spanier, und seine Freunde stehen plötzlich mitten im Platschen und Rauschen, rufen «España, España», posieren für ein Erinnerungsfoto und werden nass. «Dieser Brunnen ist nicht zur Dekoration da, sondern damit die Leute Spass haben», ruft Ivan. Die 18 Minuten gehen dem Ende zu, am Schluss spritzt das Wasser bis weit in die Höhe - die Menschen flüchten sich ins Trockene. Nur das braungebrannte Mädchen tänzelt noch immer mit ausgestreckten Armen zwischen den Fontänen.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 13. August 2004 im "Bund".​


Immer mit einem Lächeln auf den Lippen
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WANDERGESELLEN AM GURTENFESTIVAL

Zwei Zimmermänner «auf der Walz» machten auf dem Gurten halt: Rolandsbruder Beat Lampart und Freiheitsbruder Ivo Tognella packten beim Aufbau des Festivals hart an - und geniessen nun zwischen den anfallenden Arbeiten die ausgelassene Festivalstimmung.

Stolz und mit einem immerwährenden Lächeln auf den Lippen bahnen sich zwei Wandergesellen einen Weg durch die Menschenmassen auf dem Gurtengelände. Wie immer tragen sie ihre grossen schwarzen Hüte, die schwarzen Schlaghosen aus Kord und die schwarze Weste über dem weissen kragenlosen Hemd. Und wie immer fallen sie auf. In ihrer schwarz-weissen Kluft stechen sie aus der farbig-hippen Festivalmenge hervor, als wären sie die Stars auf dem Gurten. «Hei, bisch du ä geile Siech», ruft ein leicht torkelnder Festivalbesucher beim Vorübergehen Ivo Tognella zu, der seit einem halben Jahr als Fremder Freiheitsbruder auf Wanderschaft ist. «Ich weiss», ruft er zurück und lacht leise vor sich hin.

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Die zwei Zimmermänner sind nicht wegen der Musik auf dem Gurten. Oder besser gesagt: nicht nur deswegen. «Wir sind zum Arbeiten hier», erklärt Beat Lampart aus Römerswil im Kanton Luzern, aber ein bisschen Spass müsse schon sein, das gehöre zum Wanderleben. Der 23-Jährige gehört der Gesellenvereinigung der Rolandsbrüder an, auch Schacht genannt. Im deutschsprachigen Raum existieren etwa acht solcher Vereinigungen, in die eintritt, wer auf Wanderschaft gehen will. «Die Rolandsbrüder gibt es seit 1891», sagt Lampart nicht ohne Stolz. Und dieser gehört zur Wanderschaft wie die so genannte Ehrbarkeit, eine farbige Krawatte und der obligate Ring im Ohr.

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Seit fast einem Jahr ist Beat Lampart unterwegs: Er arbeitete längere Zeit in Deutschland und Österreich, reiste durch die Schweiz bis nach Toulouse und landete letzten Dienstag nach einem kürzeren Aufenthalt in England und Deutschland auf dem Gurten. «Alles, was auf dem Festivalgelände aus Holz ist, wurde von uns und ehemaligen Wandergesellen angefertigt», sagt Lampart. In strömendem Regen hätten sie letzte Woche gearbeitet: «Kleider und Schuhe waren immer durchnässt», erzählt sein Kollege Ivo Tognella. Auch der nasse Boden sei tückisch gewesen, etwa beim Aufbau der Böden für die Dusch- und Toilettencontainer in der schrägen Sleeping-Zone.

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Mindestens drei Jahre und einen Tag dauert die Wanderschaft der Handwerker. «Manchmal erscheint mir die Zeit fast zu kurz», erzählt Lampart - bei all den Plänen, die er noch hege. Bereits im Mittelalter war es Brauch, dass Zimmerleute von Baustelle zu Baustelle reisten. Sesshaft wurden sie erst später. Heute sind weltweit etwa 600 Wandergesellen unterwegs. «Wir dürfen überall hin, nur nicht nach Hause», sagt Ivo Tognella aus Thayngen im Kanton Schaffhausen. Das sei extrem hart - vor allem, wenn man der Heimat so nah sei wie jetzt auf dem Gurten.

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«Unbefleckt» müssen die Gesellen sein, wenn sie auf Reisen gehen: Unter 27-jährig, ledig, kinderlos, schuldenfrei - und trinkfest: «Wir sind keine Kinder von Traurigkeit», schmunzelt Beat Lampart. «Aber unser Ziel ist es, gute Arbeit zu verrichten - wir haben einen Ruf zu verteidigen», betont er. Und wahrhaftig: «Es ist unglaublich, wie schnell und professionell die Wandergesellen ihre Arbeit verrichten», schwärmt Matthias Kuratli, Medienchef des Gurtenfestivals. Die «Fremden Brüder», die Cowboys unter den Handwerkern, ziehen von Zimmerei zu Zimmerei. Nicht hoch zu Ross, sondern auf Schusters Rappen oder per Autostopp. Ihr Hab und Gut für drei lange Jahre tragen die Gesellen im Charlottenburger, liebevoll «Charlie» genannt. Geradezu winzig klein erscheint das Bündel neben den aufgetürmten Rucksäcken der aufs Gelände strömenden Festivalbesucher.

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Mit den von der Arbeit zerfurchten Händen zieht Beat Lampart seinen Hut etwas tiefer ins Gesicht und schaut nachdenklich - oder gelangweilt? - in das Treiben hinter den Kulissen. Sein Kamerad Ivo spricht derweil jedes annähernd hübsche Mädchen an und lässt sich genüsslich seinen spontan von der Tracht befreiten Rücken mit Sonnenmilch einmassieren. Sunnyboymässig schief sitzt sein Hut auf dem Kopf und flirtend ist sein Blick: «In jedem Städtchen ein Mädchen», etwa so lautet sein Spruch zu diesem Thema.

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Ivo Tognella kam eigens wegen des Gurtenfestivals in die Schweiz. «Es ist spannend, hinter die Kulissen zu blicken», sagt er. Nächstes Jahr will er wiederkommen: woher ist ungewiss. Unbekümmert und zufrieden schaut er in die Zukunft: «Es kann nur (noch) besser werden», findet er und mischt sich wieder unter die bunte Masse - immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Text: Manuela Ryter

​Dieser Artikel erschien am 17. Juli 2004 im "Bund".